"Völlig verfehlt" nennt Walter Pöltner die jüngste Pensionserhöhung: "Nicht hinter jeder kleinen Pension steckt ein armer Mensch."

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Das erste Comeback in Amt und Würden verkam zum Intermezzo. Keine zwei Wochen war Walter Pöltner nach dem Ibiza-Skandal Sozialminister, ehe eine Mehrheit im Nationalrat Sebastian Kurz' Übergangsregierung hinwegfegte. Nun aber ist der 67-Jährige gekommen, um zu bleiben. Seit Donnerstag ist Pöltner Leiter der neuen Alterssicherungskommission, die Gutachten über den Zustand des Pensionssystems liefern soll. Gutgelaunt kehrt der Ex-Spitzenbeamte aus dem Ruhestand zurück. Die "Vorwarnung" des STANDARD, dass beim Interview auch fotografiert wird, quittiert er per SMS: "Nehme Gesichtsmaske und Perücke mit!"

STANDARD: Ich bin 45 Jahre alt. Wird das staatliche System mir und jüngeren Menschen noch eine Pension bieten, von der wir gut leben können?

Pöltner: Ja, Sie werden von der Pension leben können. Allerdings werden Sie um etwa 20 Prozent weniger erhalten als ein vergleichbarer Angestellter, der vor zehn Jahren in den Ruhestand getreten ist. Der Grund ist, dass die Pension nun an allen Arbeitsjahren bemessen wird und nicht mehr nur an den Jahren mit dem besten Verdienst. Die niedrigere Leistung hat also mit eingeleiteten Reformen zu tun, die allmählich voll greifen, aber nicht mit einer grundsätzlichen Instabilität. Das Pensionssystem ist an sich finanzierbar.

STANDARD: In der politischen Debatte gibt es Stimmen, die angesichts der Alterung der Gesellschaft bestreiten, dass das System in der heutigen Form haltbar ist.

Pöltner: Manche Experten – oder Menschen, die sich als solche bezeichnen – pflegen eine künstliche Aufgeregtheit, sonst bekommen sie halt keine Schlagzeile in den Medien. Das ist ein Geschäftsmodell. Ich habe einen Artikel von 1959 zu Hause: "Wer finanziert morgen die Pensionen?", heißt es da bedrohlich. 60 Jahre später steht das System immer noch.

STANDARD: Halten Sie die Prognose der EU-Kommission, wonach der Zuschuss aus Steuergeld ins Pensionssystem von derzeit 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis 2040 auf lediglich 5,2 Prozent ansteigt, also für realistisch?

Pöltner: Ja, das deckt sich mit Gutachten der früheren Pensionskommission, und in der EU sitzen ja nicht lauter Ahnungslose.

STANDARD:Klingt undramatisch.

Pöltner: Na ja, so wenig ist ein Prozent des BIP nicht, und der Staat muss ja nicht nur die Pensionen finanzieren. Auch die Kosten für Pflege und Gesundheit steigen wegen der Alterung. Die Politik darf sich deshalb nicht ausruhen, sondern muss alles tun, um die Menschen länger im Arbeitsleben zu halten. Leider ist im Nationalrat gerade das Gegenteil geschehen.

STANDARD: Sie meinen die neue Regelung, die nach 45 Arbeitsjahren eine Frühpension mit 62 Jahren ohne Abschläge erlaubt.

Pöltner: Der Beschluss des Nationalrats ist unverantwortlich und arbeitnehmerfeindlich. Um Menschen von der Pension abzuhalten, konnte man bisher gut argumentieren: Arbeite drei Jahre länger, dann bekommst du 30 Prozent mehr Pension! Gibt es künftig keine Abschläge mehr, fällt dieser Anreiz weg. Da werden sich viele denken: Ab die Post in die Pension und schwarz weiterarbeiten.

STANDARD: Sie waren ja selbst einmal bei der SPÖ. Warum haben Ihre Ex-Genossen das beschlossen?

Pöltner: Weil sie glauben, dass das Wählerstimmen bringt – ein Populismus, der viel Geld kostet. Die Jungen sind die Angeschmierten, denn diese bekommen diese Konditionen sicher nicht mehr. Ich verstehe nicht, warum die jungen Abgeordneten so gutmütig sind, da mitzustimmen. Auch die Erhöhung der Pensionen über die Inflationsrate hinaus ist völlig verfehlt.

STANDARD: Wieso? 36 Euro mehr für Pensionen bis 1111 Euro klingen nicht rasend viel.

Pöltner: Nicht hinter jeden kleinen Pension steckt ein armer Mensch. Wir haben 500.000 Teilpensionisten, die noch Bezüge im Ausland haben. Jetzt bekommt ein Mann, der in Österreich eine Pension von 500 Euro hat, aus Deutschland aber 2.000 Euro bezieht, prozentuell mehr dazu als ein Schwerarbeiter, der hier 45 Jahre lang eingezahlt hat. Das Gleiche gilt für die Sektionschefsgattin, die nebenbei ein bissl Teilzeit gearbeitet hat. Will man Armut bekämpfen, dann mit einer höheren Ausgleichszulage – aber nicht so.

STANDARD: Was soll die künftige Regierung stattdessen tun, um die Menschen länger im Job zu halten?

Pöltner: Wenn die Lebenserwartung ständig steigt, wird die Politik irgendwann darüber reden müssen, das gesetzliche Pensionsalter zu erhöhen. Aber auch das wäre vergeblich, solange es nicht gelingt, mehr Menschen länger im Erwerb zu halten. Da hilft nicht die eine große Reform, da braucht es verschiedene Ansätze: von Altersteilzeitmodellen über Zuschüsse für Betriebe mit einer guten Balance von Alt und Jung bis zu flacheren Gehaltskurven, die Einkommen im Alter nicht so stark anheben. Und die beste Pensionsreform ist eine kluge Wirtschaftspolitik, die Jobs schafft.

STANDARD: Warum ist die Frühpension in Österreich so populär?

Pöltner: Das ist auch eine Frage der Kultur. Weil die Pensionen in Österreich relativ hoch sind, hat sich als Universallösung durchgesetzt: Wenn du ein Problem hast, geh in Pension! Als ich 50 wurde, habe ich das daran gemerkt, dass ich gefragt wurde, warum ich nicht in Invaliditätspension bin.

STANDARD: Drängen die Betriebe die Leute in die Pension, oder zieht es diese schon selbst dorthin?

Pöltner: Beides passiert. Auf der einen Seite entledigen sich Unternehmen, auch im öffentlichen Bereich, gerne der Älteren, wenn ein Junger billiger zu haben ist. Auf der anderen Seite wird manches Kopfweh rasch zum Grund für Arbeitsunfähigkeit. Psychische und orthopädische Leiden eröffnen einen bequemen Weg in die Frühpension. Zum Teil flüchten die Leute halt auch, weil die Arbeitsbedingungen nicht stimmen und immer härter werden.

STANDARD: Inwiefern?

Pöltner: Als ich im Alter von 15 Jahren bei Semperit angefangen habe, gab es noch Pausen zum Tratschen. Der Leistungsdruck ist seither immens gestiegen, es gibt immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse ohne gute Absicherung. Dazu kommt die Herausforderung der Technologie: Wenn du nicht die neueste Version von Excel kennst, bist du rasch in einer Analphabetenrolle. Ich selbst bin als Sektionschef ja auch schon mit 62 in Pension gegangen, weil die Arbeitsbedingungen nicht mehr zumutbar waren.

STANDARD: Auf Betreiben der früheren rot-schwarzen Regierung wird versucht, angeschlagene Pensionisten durch Rehab und Umschulung vor der Invaliditätspension zu bewahren. Gibt es Anzeichen, dass das funktioniert?

Pöltner: Nein. Der Ansatz ist gut, das Problem aber schwer zu bewältigen. Wenn schon eine gesunde 50-Jährige am Arbeitsmarkt abgemeldet ist: Wie soll dann eine rehabilitierte Arbeitnehmerin, die eine Zeit ausgesetzt hat, eine Chance haben? Die wichtigste Lehre daraus: Früher mit der Vorsorge in den Betrieben beginnen, es braucht einen Anspruch auf einen Gesundheitscheck. Gerade psychische Erkrankungen bleiben oft jahrelang unbehandelt. Der Sozialstaat muss aktiver werden.

STANDARD: Warum arbeiten Sie mit 67 selbst nun lieber wieder, statt den Ruhestand zu genießen?

Pöltner: Ich bin ja so etwas wie ein Lohnschreiber, da habe ich mich nicht verbraucht – und in diesem Metier wird man dank der Erfahrung auch immer besser.

STANDARD: Das gilt aber auch für Ihr Hobby, die Bluesgitarre.

Pöltner: Nur zum Teil. In der Theorie werde ich besser – aber als Junger hatte ich eine andere Kraft und Gelenkigkeit in den Fingern. Die ganz hektischen Riffs spiele ich lieber nicht mehr. Jetzt bin ich mehr melodiös unterwegs. (Gerald John, 7.11.2019)