Interessiert sich für sozial schwierige Menschen: Norbert Gstrein.

Oliver Wolf

Der in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein erweist sich in seiner Literatur als akribischer Wahrheitssucher, der seine Leserschaft in kriminalistischer Manier auf dünnes Eis lockt. Für seinen jüngsten Roman Als ich jung war wurde er diese Woche mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet. Im Interview erzählt der gebürtige Tiroler, worauf es ihm in seiner Literatur ankommt.

STANDARD: Herzliche Gratulation zum Österreichischen Buchpreis. Welche Bedeutung haben Preise für Sie als Schriftsteller?

Gstrein: Preise sind ein notwendiges Übel, und ich wäre der Erste, der ein paar abschaffen würde. Ich freue mich über sie in doppelter Verneinung: Die, die ich bekomme, kann ich nicht mehr nicht bekommen.

STANDARD: Ihr jüngster Roman nennt sich "Als ich jung war". Als Leser könnte man intuitiv an einen autobiografischen Roman denken. Wie sehen Sie das?

Gstrein: Das stimmt, und das ermöglicht mir, schon mit dem Titel ein Vexierspiel anzufangen. Ich war vor allem überrascht, dass der Titel nicht längst vergeben ist. Ich könnte noch drei Bücher genau so nennen, wenn ich mir überlege, was mich im Schreiben umtreibt.

STANDARD: Tatsächlich gibt es zwischen Ihrer Biografie und Ihrer Hauptfigur Franz Parallelen. Franz wächst so wie Sie als Sohn einer Hoteliersfamilie in einem Tiroler Wintersportort auf.

Gstrein: Natürlich ist es verführerisch, Parallelen zu meiner eigenen Biografie zu sehen. Dabei ist der Roman für mich dort am deutlichsten autobiografisch, wo ich am meisten erfinde. Ich habe mir endlich die amerikanischen Jahre zugeschrieben, die ich immer haben wollte, und es fühlt sich an, als hätte ich sie wirklich erlebt.

STANDARD: Die Familie in Ihrem Roman betreibt eine "Hochzeitsfabrik". Was muss man sich darunter vorstellen?

Gstrein: Die Hochzeitsfabrik ist ein Restaurant, in dem seriell, Woche für Woche, also fabrikmäßig Hochzeiten abgehalten werden.

STANDARD:Ihr Roman liest sich stellenweise wie ein Krimi, denn beieiner dieser Hochzeitsfeiern kommt eine junge Braut ums Leben. In welcher Weise hat die Hauptfigur Franz mit diesem Mord zu tun, und warum spielen Sie mit den Mitteln des Kriminalromans?

Gstrein: Für Franz verbinden sich zwei eigentlich unverbundene Ereignisse unheilvoll. Bei einer Hochzeit stürzt die Braut in den erwähnten Abgrund, bei einer anderen Hochzeit küsst er die Cousine der Braut, die erst dreizehn ist, gegen deren Willen. Eine Nonne in meinem Roman formuliert die brachiale feministische Theorie, dass Männer dazu neigen, Frauen zu schubsen, bis sie an den Rand eines Abgrunds geschubst sind und es nicht mehr viel braucht. Franz fragt sich, ob er für das Mädchen, das er geküsst hat, der erste Schubser gewesen sein könnte. Damit hat man auch Elemente eines Kriminalromans.

STANDARD: Dieser Franz beginnt zwar ein Studium, arbeitet aber hauptsächlich als Skilehrer in Wyoming. Waren Sie selbst schon einmal in den USA unterwegs?

Gstrein: Ich war häufig in den USA, seit ich mich Ende der Achtzigerjahre dort zum Studieren aufgehalten habe. Zuletzt bin ich im März den Rio Grande entlang von El Paso nach Houston gefahren. Im Dezember werde ich wieder am Rio Grande sein, diesmal Richtung Westen fahren, von El Paso nach San Diego.

STANDARD: In den USA lernt Franz einen Professor kennen, mit dem er zusammen Ski fährt. Obwohl die beiden so viel Zeit miteinander verbringen, weiß er nur sehr wenig über die Lebenslügen dieses Mannes. Und da gibt es Sarah Flarer, dieses junge Mädchen, dem sich Franz anzunähern versucht. Warum pflegt Ihre Hauptfigur so merkwürdige Beziehungsverhältnisse?

Gstrein: Ich interessiere mich am meisten für Figuren, die im Sozialen nicht ganz vorhersehbar agieren und mit anderen Leuten oft ihre Schwierigkeiten haben. Für mich sind sie gar nicht so merkwürdig, oder ihr merkwürdiges Verhalten ist mir jedenfalls ganz und gar nachvollziehbar.

STANDARD: Wie komponieren Sie Ihre Romane? Wie muss man sich Ihren schriftstellerischen Arbeitsprozess vorstellen?

Gstrein: Ich konstruiere weniger als in meinen Anfängen, ich recherchiere weniger. Wenn ich in der Romanwelt lebe, vertraue ich immer mehr darauf, dass die Sätze schon die richtigen Wege nehmen werden. Das vergrößert natürlich die Gefahr, in eine Sackgasse zu geraten, aber wenn man eine Sackgasse erkennt, kann man mit Schwung aus ihr hervorschießen und die Gegenrichtung einschlagen, bis man dort wieder gegen eine Wand läuft.

STANDARD: Hatten Sie jemals in Ihrem Leben eine Schreibblockade?

Gstrein: Oh ja, oft, und dann ist es nie um das Schreiben, sondern um das schiere Überleben gegangen: Was soll man mit sich anfangen auf der Welt, wenn man nicht schreiben kann?

STANDARD: Sie haben ursprünglich Mathematik studiert. Warum sind Sie schließlich doch Schriftsteller geworden?

Gstrein: Ich könnte mein Leben als Serie von Ausweichbewegungen erzählen, und am Ende käme genau das heraus, was ich heute bin. Wäre ich ganz und gar pathetisch, würde ich sagen, dass nur das Schreiben unausweichlich ist, und warum soll ich für einmal nicht pathetisch sein? Ich bin so lange ausgewichen, bis ich nicht mehr habe ausweichen können. Sie können das Glück, Sie können es aber auch Unglück nennen. (Gerlinde Tamerl,8.11.2019)