Ein vages Gesetz gibt Niederösterreichs Bürgermeistern große Freiheiten bei den Wählerlisten – das Wahlrecht wird für viele zum Glücksspiel.

grafik: der standard

Zehn Wochen pro Jahr verbringt Laurin Ginner in Steinakirchen am Forst im niederösterreichischen Mostviertel. Der 31-Jährige ist dort aufgewachsen. Im Jänner war er nach Wien gezogen, hat aber einen Zweitwohnsitz im Elternhaus angemeldet. Nach niederösterreichischem Recht steht ihm dadurch das Wahlrecht bei der Gemeinderatswahl im Jänner 2020 zu – sofern der Bürgermeister feststellt, dass sein Wohnsitz "ordentlich" ist.

Das tat er nicht. Laurin Ginner wurde aus der Wählerliste gestrichen. Dabei hat er am Tag seiner Ummeldung ein Wählerevidenzblatt ausgefüllt, um seinen gesellschaftlichen Bezug zur Gemeinde nachzuweisen. Darin stehen die zehn Wochen, die Ginner angibt, in Steinakirchen zu verbringen, sowie der Bezug zu Freunden, Familie und Vereinen. Zu diesem Zeitpunkt, im Jänner 2019, war Ginner sogar noch Gemeinderat in Steinakirchen.

Liste vermutet Missbrauch

Genau das könnte aber dazu geführt haben, dass er nun nicht wählen soll, vermutet die Liste Unabhängige Soziales Steinakirchen (Lust), die Nachfolgerin der aufgelösten SPÖ-Ortsgruppe. Für die saß der 31-Jährige im Gemeinderat, die Lust ist mit vier Mandaten die größte Opposition gegenüber der ÖVP, die 16 Mandate hält – und den Bürgermeister stellt.

Die linke Liste wirft Ortschef Wolfgang Pöhacker nun den Missbrauch seiner Befugnisse vor: "Es ist einfach erschütternd und skandalös, welcher Methoden sich der Bürgermeister bedient, um sich im Amt zu halten", sagt Lust-Chef Wolfgang Zuser. Er hat sich die Wählerliste angeschaut, die vergangene Woche im Gemeindeamt aufgelegen war.

"Parteipolitische Taktik"

Darin will er etliche "willkürliche Streichungen" gefunden haben. Mehr als 70 Nebenwohnsitzer seien aus der Evidenz verschwunden, schätzt die Lust – offizielle Informationen waren am Montag nicht zu bekommen. Betroffen seien vor allem Nebenwohnsitzer, die ihren Hauptwohnsitz in Wien haben. Zuser glaubt nicht an einen Zufall: Bürgermeister Pöhacker habe "Personen das Wahlrecht trotz besseren Wissens nur aufgrund parteipolitischer Taktik entzogen". Wer großteils in Wien wohnt, wählt eher links, so das von der Opposition unterstellte Kalkül.

Bürgermeister Pöhacker beteuert, Ginner "positiv beurteilt" zu haben – er müsse durch einen EDV-Fehler aus der Liste gefallen sein. Ob davon auch andere Nebenwohnsitzer betroffen sind, soll die Gemeindewahlbehörde bald feststellen.

Viele Freiheiten für Bürgermeister

Dass Niederösterreichs Bürgermeister überhaupt mit so viel Macht ausgestattet sind, ist einer Gesetzesnovelle in dem Bundesland geschuldet. Bei der Gemeinderatswahl 2015 war mit dem Wahlrecht für Nebenwohnsitzer nämlich Schindluder getrieben worden, manche Gemeindepolitiker meldeten mehr als ein Dutzend Zweitwohnsitzer bei sich zu Hause, die dann auch wahlberechtigt waren. Damit das nicht mehr vorkommt, verpflichtete das Land die Bürgermeister vor der Landtagswahl 2018 zu prüfen, ob die Zweitwohnsitzer auch ein berechtigtes Interesse am Ort haben. Nur dann dürfen sie wählen.

Doch das Gesetz war vage formuliert und wurde unterschiedlich ausgelegt: Manche Bürgermeister strichen hunderte Nebenwohnsitzer aus der Evidenz, andere keinen einzigen. Die ÖVP hat eine Gesetzesreparatur angekündigt. Doch eine Einigung im Landtag kam nicht zustande.

Die Grünen hatten 2018 überlegt, die Landtagswahl anzufechten. Von der Partei in Auftrag gegebene Gutachten räumten der Idee gute Chancen ein. Weil die Landespartei aber keinen zweiten Wahlkampf geschultert hätte, wurde die Anfechtung abgesagt. Für die Gemeinderatswahl werde man das aber wieder prüfen, sagte Parteichefin Helga Krismer zuletzt zum STANDARD. (Sebastian Fellner, 19.11.2019)