Navid Kermani, "Morgen ist da. Reden", 26,80 Euro / 368 Seiten. C. H. Beck, 2019
Cover: Verlag

Das Inhaltsverzeichnis klingt trocken: "Zur Eröffnung der Lessingtage" oder "Zur Eröffnung der 83. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft" heißen die Kapitel. "Zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes" oder "Zum Dank für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" vermitteln einen Eindruck von der Geltung des Autors Navid Kermani.

Andere wie "Auf der Trauerkundgebung für die Opfer der Pariser Anschläge" und "Zum siebzigsten Geburtstag des 1. FC Köln" geben eine Idee von der Breite der Gelegenheiten, die er als Redner beehrt.

Man soll ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen, und das gilt auch für Navid Kermanis Reden. Kostproben aus den Jahren 1999 bis 2019 versammelt der Band Morgen ist da. Genauer gesagt sind es keine Reden, wie der Autor feststellt, sondern "Texte, die öffentlich vorgetragen worden sind".

Er erklärt den Unterschied mit Spontanität versus Gemessenheit jedes Worts. Jedenfalls lässt sich aus den technisch klingenden Titeln kaum ermessen, worum es in den Reden jeweils geht oder mit wie viel Einfühlung, Denkschärfe, Witz und Leidenschaft Kermani darin operiert.

Spannender Vortrag

Es braucht für einen spannenden Vortrag dessen Verpackung in eine Geschichte. Während Kermani sich dem Thema Integration annähert, erfährt man etwa von der Schönheit traditioneller iranischer Wohnarchitektur.

2005 zum "50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheaters" errechnete Kermanis Routenplaner am PC eine 5931 Kilometer lange Strecke durch Europa ganz ohne Passkontrolle. Was für eine Erfolgsgeschichte! Kein Kontinent sei gerechter, toleranter und sicherer. Dabei hatte er damals schon Angst um das europäische Projekt – aus heute noch triftigen Gründen.

Obwohl im Anlass verankert, breiten die Reden die Flügel aus. Kermani äußert sich zu Religion, Weltpolitik und Menschenrechten, bringt sich dabei auch selbst ins Spiel: Wunderschön seine Grabrede für den Vater, der im Iran Arzt gewesen war, 1957 mit seiner Frau nach Deutschland kam, wieder Arzt wurde, vier Söhne aufzog und voller Ruhe 2017 verstarb. Oder dass er als Kind von Einwanderern und als Muslim diese Reden heute halten dürfe! Kein Wunder, dass der Grundton der Vorträge ein optimistischer ist.

Dialektisch elegant

Dem Fass den Boden aus schlägt die "Dinner-Speak auf der Investment-Konferenz der Flossbach von Storch AG". Den sehr geehrten Vorständen und Anlegern erzählt Kermani von einem jungen Drogisten an der Seidenstraße vor 800 Jahren, der sein Hab und Gut verschenkte, um Erleuchtung zu suchen.

Als Drogist wäre er heute vergessen, so aber schuf er einige der berühmtesten Texte der persischen Kultur. "Was macht also eine lohnende Aufgabe aus?", fragt Kermani, um dann doch jenen zu danken, die mit ihrer Arbeit sein Brot backen und im nächsten Atemzug aber die Kapitalmarktberichte des Gastgebers zu zerpflücken. Dialektisch elegant. Worte können verletzen. Worte, die aufrütteln und heilen, sind Kermanis Metier. (Michael Wurmitzer, 11.12.2019)