Die Schriftstellerin Monika Helfer: Die Ich-Erzählerin ähnele der schönen Großmutter, behauptet deren Mutter immer wieder.

Foto: Isolde Ohlbaum

Bagage, Gesindel, Abschaum wird die am Rande eines abgelegenen Dorfes wohnende Familie geschimpft. Ohne angesehenen Beruf oder Vermögen, wird das Paar mit den biblischen Namen Maria und Josef trotzdem beneidet, weil beide nämlich außerordentlich gut aussehen.

Es sind die Vorfahren der Ich-Erzählerin, deren Mutter Grete unter einem schlimmen Vorzeichen in die Familie geboren wurde. Da Josef glaubt, das Kind sei nicht von ihm, wird er Grete sein Leben lang missachten und nie ein Wort an die Tochter richten.

Die namenlose Ich-Erzählerin erforscht im Roman Die Bagage, wie es dazu kam. Sie ist die Erste, die das – in Form von Anekdoten und Gerüchten – mündlich Überlieferte in sparsam und genau gesetzter Sprache zu Papier bringt.

Am Anfang ihrer Schilderung steht ein Imperativ, so als würde sie einem Kind befehlen, mithilfe einer Zeichnung die vergangene, anfangs idyllisch scheinende Welt in die Gegenwart heraufzuholen.

Doch: "Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild", heißt es, und zeigt, dass die Zeiten zu Beginn des Ersten Weltkriegs hart sind und die Familie bitterarm ist. Maria, die mit ihren schwarzen Haaren und dunklen Augen so schön ist, dass der Teufel im Spiel sein muss, ist sich ihrer Anziehungskraft wohl bewusst. Der Pfarrer wirft ihr deshalb vor, die dörfliche Gemeinschaft durcheinanderzubringen.

Der Teufel im Spiegel

Josef hingegen wird von allen Frauen des Dorfes begehrt. Die Eheleute verstehen sich hauptsächlich über ihre Körper; eine Liebe, die jedoch unausgesprochen bleibt: "Josef liebte seine Frau. Er selber hat dieses Wort nie gesagt. Es gab dieses Wort in der Mundart nicht." Wo nicht viel geredet wird, müssen Gefühle an Taten, Gesten und Blicken abgelesen werden.

Die Ich-Erzählerin ähnele der Großmutter, behauptet deren Mutter z. B. immer wieder. Das Wort "Schönheit" fällt dabei aber nie, sondern die Tatsache wird dem Mädchen nur in Umschreibungen nahegebracht, welche vor allem Warnungen sind, sich nicht zu viel herauszunehmen. Auch aus dem Spiegel schaut der Teufel heraus.

Großmutter Maria träumt als junge Frau in der engen Dorfgemeinschaft davon, ihre Lust leben zu dürfen, ohne als "verdorben" zu gelten. Als ihr Mann in den Krieg ziehen muss, bittet er den Bürgermeister, dafür zu sorgen, dass sich keiner der gierigen Männer an sie heranmacht; ohne zu bedenken, dass dieser Josefs Frau für sich selbst haben will.

Auf einem Jahrmarkt verliebt Maria sich dann in einen dahergelaufenen Deutschen, der ihr folgt und so zum Auslöser der tragischen Geschichte wird. Er weckt ein Verlangen, das sie nie zuvor gespürt hat. In seinem Blick wird sie auf besondere Weise erkannt: "Ihre Hände waren rau, aber nur innen. Oben waren sie wie vergoldet." Maria weiß, dass sie nicht nachgeben darf, und schickt ihn weg.

Der Terror beginnt, als sich eine weitere Schwangerschaft andeutet. Obwohl Marias Ehemann inzwischen vier Tage Fronturlaub hatte, will keiner glauben, dass er der Vater des Kindes sei. Der Pfarrer verflucht Marias Schönheit; sie wird des Ehebruchs beschuldigt, Luder und Hure geschimpft. Sie bleibt dennoch stolz und selbstbewusst.

Eine unglaubliche Stärke geht von ihr aus. Sie beugt sich nicht. Die Familie hört auf, in die Kirche zu gehen. Vom Bürgermeister wird Maria schließlich so bedrängt, dass sie ihn nur mithilfe ihrer Kinder und einer Waffe vertreiben kann. Danach bringt er keine Lebensmittel mehr vorbei, und sie müssen hungern.

Das Unglück weitervererbt

Das alles wird dicht und sprachmächtig geschildert. Ohne Klage oder Anklage, sondern mit Würde und Wucht. Ein paar Worte genügen, und eine Figur wird sichtbar: "Der zehnjährige, uralte Hermann schmunzelt wie ein Pensionist, so riecht er auch. Es ist Maria peinlich, wie ihr ältester Sohn riecht. Nach Stall nämlich und nach altem Schweiß, nach altem Körper." Von ihm nimmt man nur seine Arbeitskraft wahr. "Als wäre er ein Traktor", heißt es trocken.

Neben körperlicher Attraktivität wird in dieser Familie von Außenseitern auch das Unglück weitervererbt. Ein Bruder Gretes wird totgefahren. Einer ertrinkt. Zwei Neffen werden kriminell. Eine Enkelin geht an Aids zugrunde. Die Mutter der Ich-Erzählerin stirbt, als diese erst elf ist. Ihre Tochter Paula kommt bei einem Bergunfall mit 21 ums Leben.

Souverän wechselt die Ich-Erzählerin zwischen den Zeiten: der Liebesgeschichte von Maria und Josef zu Beginn des Jahrhunderts, den Gesprächen mit Verwandten, ihrer eigenen Nachkriegskindheit; auch ihr Dasein als Frau, Liebende und Mutter findet Raum.

Die Schicksalsgemeinschaft der verfemten Familie wird, ohne viel zu psychologisieren, vor allem durch intensive Sprachbilder vorgestellt. So erreicht der Roman ungeheure Intensität. Sogar die Schmähung "Bagage" wird letztlich ins Positive gedreht und zum überlebensnotwendigen Bündnis erklärt.

Immer wieder reflektiert die Ich-Erzählerin ihr Tun, thematisiert die ordnende Kraft des Erzählens, welche Erinnerungsbruchstücke zusammenbringt. Dabei schöpft sie auch aus den Inszenierungen ihrer Tante, die Vorarbeit leistet, wenn sie sich, befragt durch die Schreibende, in die Vergangenheit hineinversetzt: "Sie tat, als ob die Leute, von denen sie erzählte, immer noch leben, und nicht nur das: als ob sie jetzt hier wären und jetzt hier ihre Gespräche führten." Im Erinnern an vertraute Menschen wird stets ihr Verlust mit aufgerufen: ein von Liebe geleiteter, schmerzhafter Prozess. (Sabine Scholl, 7.3.2020)