Sozialmarkt für Menschen mit niedrigem Einkommen: Wer schon bisher kaum über die Runden kam, den kann auch der Verlust eines bescheidenen Zusatzeinkommens in Existenznöte stoßen.

Foto: Regine Hendrich

Die Corona-Krise hat den Speiseplan von Frau M. ausgedünnt. Ringsum sperrten jene Ausgabestellen zu, wo sie sich mit Gratislebensmitteln versorgte. Mittlerweile hat in ihrem Bezirk zwar ein Notbetrieb gestartet, doch auswählen kann man dort nun nicht mehr. Für 3,80 Euro bekomme sie einen Trolley voll mit Essen und Hygieneartikeln, erzählt die 66-Jährige, was ihr auch sehr helfe. Aber ein Teil der oft abgelaufenen Waren sei dann doch verdorben – und noch dazu habe ihr Kühlschrank den Geist aufgegeben.

Berichte wie dieser trudeln derzeit in Massen bei Sozialorganisationen ein. Vom zuckerkranken Straßenzeitungsverkäufer, der sich nicht mehr unter die Leute traut, bis zum psychisch angeschlagenen Notstandshilfebezieher, dem die Schüler für seine Nachhilfestunden weggebrochen sind: Wer schon bisher kaum über die Runden kam, den kann auch der Verlust eines bescheidenen Zusatzeinkommens in Existenznöte stoßen. Mindestpensionisten darben mit alten Fernsehern als einziger Gesellschaft in der Isolation, Sozialhilfeempfänger fragen sich, wie sie zu Geld kommen sollen. Dass viele Stellen keinen oder nur mehr eingeschränkten Parteienverkehr zulassen, überfordert Menschen ohne Internetroutine.

Mit voller Härte

"Die Krise trifft die Schwächsten unserer Gesellschaft mit voller Härte doppelt und dreifach", sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien, und berichtet von heißgelaufenen Telefonen: "Menschen melden sich unter Tränen, weil sie nicht weiter wissen und verzweifelt sind." Martin Schenk von der Armutskonferenz fordert, die Ausgleichszulage – Mindestsatz für diverse Sozialleistungen – zumindest befristet von 917 auf 1.000 Euro anzuheben und 50 Millionen mehr für die von den Ländern ausgeschüttete Hilfe für besondere Notlagen zu veranschlagen: Neben alten und gesundheitlich beeinträchtigten Menschen sollte die Regierung auch die Armen generell als Corona-Risikogruppe einstufen.

Schenk beruft sich dabei nicht nur auf Erfahrungsberichte. Daten zeigen, warum die Nachzügler der Gesellschaft besonders angreifbar sind – das beginnt beim Krankheitsbild. Laut Statistik Austria leiden 16 Prozent der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten unter multiplen Gesundheitsbeschränkungen, in der restlichen Bevölkerung sind es lediglich acht Prozent. Besonders groß ist die Kluft in der Gruppe der 40- bis 64-Jährigen: Jeder fünfte Niedrigverdiener ist mehrfach angeschlagen, bei den mittleren und höheren Einkommen betragen die Anteile nur acht und vier Prozent.

Früher sterben

Auch ohne Corona-Welle ist die Lebenserwartung sozial schwacher Menschen deutlich niedriger als im Rest der Bevölkerung. Dauerhaft arme Männer sterben um zwölf Jahre früher, Frauen um neun Jahre früher. 267.000 Bürger zählen zu dieser Gruppe, das sind mehr Leute, als Linz, drittgrößte Stadt Österreichs, Einwohner hat.

Nicht nur das Risiko, krank zu werden, steigt mit sinkendem Einkommen. Bauen Unternehmen in einer Wirtschaftskrise Jobs ab, fliegen als Erstes oft jene, die am schlechtesten verankert sind. Betriebe versuchten zumeist die naturgemäß eher gut bezahlten Stammbelegschaften zu halten, indem sie etwa Kurzarbeit anbieten, sagt Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Rascher in der Arbeitslosigkeit landeten Leiharbeiter, Saisonarbeiter und andere Personen mit instabilen Dienstverhältnissen: "Da gilt vielfach das Prinzip 'Last in, first out'."

Überdies trifft der aktuelle Wirtschaftseinbruch – seit dem Lockdown am 15. März stieg die Zahl der Arbeitslosen um 200.000 – auch Branchen besonders massiv, wo die Löhne verhältnismäßig niedrig liegen. Schlugen die Folgen des Bankencrashs von 2008 direkt auf die gut bezahlte Sachgüterindustrie durch, sind die Opfer der ersten Tage nun vielfach im Tourismus und Handel zu finden.

Eine Krise wie diese verschließe zudem die Eintrittspforte in den Arbeitsmarkt, ergänzt der Experte Mahringer: Jene Leute, die ohnehin schon keinen Job hatten, müssen sich auf eine noch längere Arbeitslosigkeit gefasst machen.

Abgehängte Schüler

Weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang: Niedriger Bildungsstand erhöht die Gefahr, einmal ohne Job dazustehen – und mangels Schulunterricht drohen gerade jener Kinder aus sozial benachteiligen Haushalten den Anschluss zu verlieren, die im Schnitt ohnehin schon schlechter abschneiden. Ohne Computer, stabile Internetverbindung und ausreichend Wohnraum kann Homeschooling schwer funktionieren. Wie DER STANDARD berichtete, ist laut einer Erhebung an Brennpunktschulen jeder fünfte Schüler für die Lehrer nicht erreichbar.

"Ich häng mit den Kids auf engem Raum herum", hat eine Alleinerzieherin dieser Tage an die Armutskonferenz geschrieben, "die Decke fällt uns bereits auf den Kopf". Eigentlich sollten Hausaufgaben erfüllt, Schule wie Studium fortgesetzt werden – jedoch: "Wir haben zu fünft nur einen Laptop." (Gerald John, 2.4.2020)