Sänger Blixa Bargeld in der Bildmitte: "Wir hatten tausend Ideen, und alle waren gut."

Foto: Mote Sinabel

Kurzer autobiografischer Einstieg: Anlässlich des Albums Zeichnungen des Patienten O. T. und seiner bei zünftiger Lautstärke im Jugendzimmer erfolgten Abspielung in den frühen 1980er-Jahren brach sich die Frau Mutter passend zur Musik ungefragt ihren Weg durch die Tür. Sie stellte angesichts der gegen das vermeintlich beschauliche Landleben mit strukturiertem Häuslbauerlärm vorgehenden Berliner Band Einstürzende Neubauten eine in Richtung aufgehendes Geimpftes tendierende Frage: Ob man denn nun endlich endgültig deppert geworden sei?!

Keine Frage, hier wurde alles missbraucht. Mischmaschine, Kreissäge, Flex, Stahlfedern und Ölfässer, dumpf plonkende Abflussrohre, Plastikkübel, rhythmisch eingesetztes Fassadengittergeschabe, Dullijöh aus dem Kofferradio (Radio Eriwan!) oder zwischendurch vom Dach fallende Trapezblechschrauben. Dazu schreit jemand Mord und Feurio: Das konnte man täglich auch vom Nachbarn haben. Jahre später sollte Blixa Bargeld, der Wortführer dieser späten Trümmergeneration, Werbung für den Baumarkt Hornbach machen: Es gibt immer was zu tun! Manchmal geht sich Geschichte zumindest finanziell gut aus.

Einstürzende Neubauten

Der dringende Verdacht des Deppertseins befeuerte also früher einen starken jugendlichen Widerstand gegen Reihenhaus, Rattanmöbel und Gartenfackeln inklusive weiter Teile der Gleichaltrigen, die das für keine Musik hielten. Es finden halt auch immer die Richtigen zusammen: Aaarrrggghhh! Alles abfackeln! Draußen ist feindlich! Ja, freilich sind die Vulkane noch tätig! He, du Scheißidylle, du kannst dir gleich vom Schwarzen Block Eberschwang eine feste Watsche abholen!

Schwan, Wald, Sperrmüll

Die darüber mit gutem, altem Bert-Brecht’schem Verfremdungseffekt heultonnisierende Frontfigur Blixa Bargeld gab dazu den sterbenden, mit Amphetaminen vollgepumpten und deshalb eindringlich in die existenzielle Leere oder bis hin nach Übermorgen zur Sperrstunde stierenden und endgeil röchelnden Schwan. Er ging in aller morbiden Schönheit in einer Ölpest unter.

Aufsässige junge Menschen liebten diesen bis heute gern vor Publikum gegebenen, manchmal bierernsten, oft im Keller oder im mit Sperrmüll vollgestellten deutschen Wald unangepasst rockenden Soundtrack der Verweigerung und romantischen Nichtung. Kaputtmachen, vor allem auch sich selbst, ist immer interessanter als etwas Schönes basteln oder BodyMass-Index-Optimierung. Dazwischen verstecken sich in diesem genreprägenden Industrialstil tatsächlich immer wieder schöne Melodien zwischen Kanzelpredigt, Rampensautheater und hinterfotzigen, sehnsuchtsvoll zitternden Balladen. Bei diesen fällt in China mit tausend Watt verstärkt ein Schüppel Fahrräder um.

Einstürzende Neubauten

Das neue Album der auf diese Weise über vier Jahrzehnte würdig gealterten Einstürzenden Neubauten ist ihr erstes richtiges Songalbum seit zwölf Jahren. Weil man es mittlerweile bis in die Knochen spürt, wenn man mit Metallprügeln auf harten Widerstand stößt, hat man sich längst auf Geräuschobjekte verlegt, deren Bearbeitung die Bühnenanzüge wie das Kreuz schonen. Außer auf Ten Grand Goldie, dem nachdenklich tanzenmachenden Eröffnungssong des Albums Alles in Allem, bevorzugen die Neubauten deshalb in neuen Songs wie Taschen auch lieber mit Styropor oder rückenschonendem Verpackungsmaterial gefüllte Türkenkoffer als Schlagzeugersatz.

Das große Buch Hornbach

"Silence is sexy", das auch schon wieder einige Jahre auf dem Buckel habende Motto der Neubauten hin zum glücklichen Altern ohne Hörgerät, wird jetzt, einmal mehr gelassen und heiter, in schöne Lieder wie das Binnenschifffahrts-Shanty Am Landwehrkanal gegossen. Man blickt versöhnlich auf alte Zeiten zurück: "Wir hatten tausend Ideen, und alle waren gut." Es gehört zum losen Themenkomplex Berlin, der das Album mit Stücken wie Grazer Damm, Wedding und Tempelhof prägt.

Im Song Seven Screws, in dem es laut dem großen Buch Hornbach um sieben Schrauben geht, die Blixa Bargeld im Gegensatz zu unseren hiesigen sieben Zwetschken zusammenhalten, hallt und plonkt im Hintergrund die Gitarre aus Twin Peaks. Manchmal klingt das mittlerweile schön glänzend polierte und – Risikogruppe! – regelmäßig desinfizierte Metallgerümpel nach der Totenglocke von Arvo Pärts Cantus in Memoriam Benjamin Britten und gegen Ende sehr gut nachvollziehbar nach der Schiffsglocke von Gavin Bryars und seiner Komposition The Sinking of the Titanic.

Bei den Neubauten kann man immer etwas lernen. Im Titelstück kommt das schöne Wort "Lichtfraß" vor. Vampire oder von Schwammspinnerraupen geplagte Bäume wissen, was damit gemeint ist. Draußen ist feindlich. (Christian Schachinger, 15.5.2020)