Foto: Matthias Leton

Popmusik gilt als Zerstreuungskunst, als leichte Kost und hedonistische Übung eines unbeschwerten Lebens. Ihrem Wesen nach ist sie gefallsüchtig, will von vielen gehört werden, populär sein. Das gilt vornehmlich für die Chartsmusik als Versorger der Masse, für die Musik ein Alltagsaccessoire ist. Zur Oberflächlichkeit gehört die Imagepflege der Darsteller. Die trainierten Bauchmuskeln der Boygroups, die harten Trizeps der toughen Frauen. Wenn jemand auftaucht, der oder die diese Schablonen sprengt, und das passiert immer wieder, wird das erstaunt thematisiert. So als wäre ein Alien in der Hitparade gelandet. Aktuell ist Alma so ein Alien.

Die junge Finnin zählt zu den neuen Playern und Autorinnen von vermeintlich Unangepassten im Mainstream-Pop und hat eben ihr Debütalbum Have U Seen Her? veröffentlicht. Eine Mischung aus Electro, Hip-Hop, Electric Dance Music und ein wenig Rock. Und: Alma-Sofia Miettinen ist eine Vertreterin der Body-Positivity-Bewegung. Das heißt, sie ist "rund und g’sund und leiwand drauf", wie Steffi Werger einst gesungen hat. Almas Albumtitel spielt auf ihre Außenseiterrolle an, und das Video zu ihrer Single Stay All Night wirkt ebenfalls wie ein Hoch auf die Gemütlichkeit.

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Body-Positivity stammt aus dem Soziotop der Political Correctness, entspringt also einer guten Absicht und wird als Gegengift zum Body-Shaming gehandelt. Body-Shaming beschreibt das Diffamieren von Menschen mit nicht perfekten Körpern – wie auch immer so ein perfekter Body aussehen soll. Traditionell schiebt man der Mode, der Werbung oder Popstars die Schuld dafür zu: Sie sollen mit ihrer Anmutung unsere Hässlichkeit in unser Unglück verwandeln. Bekannte Vertreterinnen der Bewegung sind Beth Ditto, Billie Eilish oder Lizzo – alles Musikerinnen, die keine Modelmaße haben, aber vorleben, dass sie sich in ihrer Haut wohlfühlen. Dabei ist Body-Positivity durchaus umstritten.

Schoko, Limo und Chips

Feministinnen kritisieren, es würde Frauen wieder nur auf ihre Erscheinung reduzieren, andere sehen darin eine Form der vorauseilenden Rechtfertigung für ihre Körper. Mediziner sagen, die Sache stoße dort an ihre Grenzen, wo sie das Resultat einer Ernährung sei, deren Fundament Schoko, Limo und Chips bildeten und die in nächtlichen Gängen zum Kühlschrank ihren Bewegungshöhepunkt fänden. Die wenigsten Übergewichtigen seien gesund, zumindest nicht langfristig.

Im Pop hat in den letzten Jahren das Gewicht auf der Waage seiner Stars ebenso an Bedeutung gewonnen wie die sexuelle Orientierung oder die Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Das scheint oft schon wichtiger zu sein als die Kunst an sich. Und die Rezeption berücksichtigt das allzu sklavisch und kaut brav den vorgeschriebenen Jargon wieder. Niemand leidet an Fettleibigkeit, sondern an Adipositas. Das klingt so edel. Wie nach der griechischen Göttin des im Munde zusammenlaufenden Wassers.

Formalismen statt Inhalte

Doch das sind Rückschritte, nicht Fortschritte, weil es die Debatte von Inhalten weg in Richtung Formalismen wie der korrekten Nomenklatur zerrt. Mehrheitlich scheint das Frauen zu betreffen, dabei gibt es viele Ausnahmen: Die Musikerin Brittany Howard ist schwarz, lesbisch, übergewichtig und auf einem Auge blind – dennoch geht es bei ihr kaum je um Marginalisierungen aufgrund vermeintlicher Defizite. Dafür ist sie selbst verantwortlich: Wiewohl sie zu gegebenem Anlass politisch Position bezieht, wird ihr öffentliches Image davon nicht dominiert, sondern von ihrer Arbeit.

Der fette Elvis

Andererseits werden dicke Musiker vielleicht noch öfter als solche bezeichnet als stattliche Kolleginnen. Es gibt wenige Texte über die Band Poison Idea, die ohne Anspielungen auf deren Wänste auskämen. Und wie soll man ignorieren, dass sich die Sonne verdunkelt, wenn sich die samoanischen Rapper des Boo-Yaa T.R.I.B.E. vom Mittagstisch erheben? Und natürlich wird der späte Elvis als der fette Elvis behandelt, der er war. Wenn ein globales Sexsymbol plötzlich drei Kinne hat, darf man das sagen, von Body-Positivity würde da niemand sprechen wollen. Man steht auch nicht vor einem Menschen in nassen Kleidern und tut so, als wäre das ganz normal: "Na, alles im Trockenen?"

Rund ja, g'sund und leiwand drauf eher nicht: die Herren vom Boo-Yaa T.R.I.B.E.
Mark Martins

Doch unabhängig von den in die Böden ihrer Jeans extra eingenähten Keilen haben Poison Idea herrlichen Lärm gemacht, hat Elvis noch aus feisten Wangen heraus Millionen gerührt.

Vielleicht sollten sich Publikum und Chronisten wieder mehr der Kunst als dem Body-Mass-Index ihrer Schöpferinnen und Schöpfer zuwenden. Das befördert vielleicht die Erkenntnis, dass Qualität kein Geschlecht kennt, in verschiedenen Kleidergrößen daherkommt und ein Angebot an alle ist, egal wen sie lieben. Gute Kunst übermittelt ihre Botschaft wie von selbst, nur das Mittelmaß missbraucht sie als Vehikel für eine andere Agenda.

Außerdem steht nirgendwo geschrieben, dass Künstler sich in ihrer Haut wohlfühlen müssen. Nicht selten entstand große Kunst aus tiefer Verzweiflung. (Karl Fluch, 28.5.2020)