Der Schönheits-, Fitness- und Jugendwahn hat uns das genommen: einen welken Körper als schön zu empfinden. Wir sollten das wieder lernen.
Foto: Willy Puchner

PROTOKOLL: Mia Eidlhuber

Ich war erst 27, als ich begonnen habe, alte Menschen zu fotografieren. Warum, das weiß ich noch genau. Ich hatte damals immer wieder den absurden Traum, dass ich mit 28 Jahren sterben werde. Ich habe es niemandem erzählt und mich gefragt, wie ich damit umgehen kann, und dachte, am ehesten, indem ich herausfinde, wie es denen geht, die bald sterben werden. Ich wollte also sehr alte Menschen treffen und habe angefangen, die 90-Jährigen zu porträtieren. Dafür habe ich 32 Menschen im 15. Bezirk angeschrieben. 31 haben mir geantwortet, dass ich kommen darf. Damals habe ich mich in das Thema Alter verliebt.

Foto: Willy Puchner

Die blinde, 90 Jahre alte Dorothea Neff hielt die Eröffnungsrede zu meiner Ausstellung im Künstlerhaus. Mir ist es in diesen Arbeiten nie um den sozialkritischen Aspekt gegangen, sondern darum, die Würde und den Wert alter Menschen zu zeigen. Danach habe ich alte Menschen am Land fotografiert. Dort war die Situation eine andere: Im Gegensatz zum Menschen in der Stadt, der einsam war und kaum reden konnte, weil er so lange schon nicht mehr geredet hat, war er oft eingebunden in die Familie. Später habe ich die Serie "Lebensgeschichte und Fotografie" gemacht, in der auch das Alter eine große Rolle gespielt hat. Und in der Folge habe ich die 100-Jährigen fotografiert.

Foto: Willy Puchner

Was mich immer interessiert hat, war das Thema Umarmung. Ich hatte vor, eine Arbeit über die Goldene Hochzeit zu machen. Ich musste jedoch feststellen, dass es in der Regel keine Innigkeit mehr gibt, wenn Menschen so lange zusammen sind. So kam ich auf die Idee alte Liebespaare zu fotografieren, Liebespaare, die sich erst nach ihrem 70. Lebensjahr kennengelernt haben. Sie waren nicht so einfach zu finden.

Ich muss an dieser Stelle anmerken: In Altersheimen in Österreich sieht man Liebespaare nicht so gerne. Die Betreuerinnen wollen das nicht, sie wollen jeden einzeln in seiner Koje. In Norddeutschland aber gab es ein Altersheim, das mit dem Slogan "Kommt zu uns, hier könnt ihr euch verlieben" geworben hat.

Foto: Willy Puchner

Als ich dort das erste Liebespaar fotografiert habe, haben die beiden sofort mit einem ewig langen Zungenkuss begonnen. In diesem Moment bin ich sehr erschrocken und habe bemerkt, wie sehr dieses Tabu von Liebe im Alter auch in mir vorhanden ist. Es war aber einfach nur schön.

Im Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez gibt es diese Stelle: 51 Jahre, neun Monate und vier Tage wartet Florentino Ariza auf Fermina Daza. Endlich hat er die Möglichkeit, sie in den Arm zu nehmen. Márquez beschreibt, wie schön es ist, diesen alten Körper zu halten. Der Schönheits-, Fitness- und Jugendwahn hat uns das genommen, einen welken Körper als schön zu empfinden. Wir sollten das wieder lernen! Es ist wunderbar, Leute zu treffen, die zu ihrem Alter stehen. Meine Haare sind grau, aber das ist in Ordnung!

Foto: Willy Puchner

Als ich ein Kind war, hatte meine Mutter wenig Zeit, mein Vater ist gestorben, als ich acht Jahre war. Ich bin sehr viel mit meiner Großmutter zusammen gewesen. Sie hat mich geliebt, und ich habe sie geliebt. Ich kann mir vorstellen, dass manche Kinder jetzt traurig waren, dass sie ihre Großeltern nicht gesehen haben. Das Abstandhalten und die Isolation bringen uns jetzt in eine nie dagewesene Situation. Wenn wir Glück haben, hat dieses Virus auch etwas Positives, weil es die alten Menschen ein bisschen hervorhebt, weil sie eine Plattform bekommen. Man redet wieder mehr über sie. Das alles hat mehrere Gesichter. Andererseits ist es eine Tragödie, wenn jetzt unter dem Vorwand des Schutzes alte Menschen nicht mehr besucht werden. Dass wir uns schützen, Masken tragen, Vorsichtsmaßnahmen treffen, ist völlig in Ordnung. Aber es hätten Lösungen gefunden werden können, jemanden doch besuchen zu können.

Bis ich selbst so alt bin

Ein weiteres Tabu ist natürlich der Tod. Als ich ein Liebespaar fotografiert habe, während der Mann im Sterben lag, wurde ich vom Heimleiter rausgeschmissen. Es wurde lang konferiert, bis wir zur Lösung kamen, die Frau des sterbenden Mannes entscheiden zu lassen. Und sie hat gesagt: Bitte, machen Sie ein Bild von uns, denn zur Liebe gehört auch das Verlassenwerden. Das ist ein trauriger Satz, aber so ist es.

Foto: Willy Puchner

Meine nächste Arbeit wird sich mit der Krankheit Alzheimer und Demenz beschäftigen. Damit sollten wir uns auseinandersetzen. Mit dem Faktum, dass eine Art von Bewusstsein wegschwimmt, andere Dinge zählen, die wir im ersten Moment vielleicht nicht verstehen. Als ich als junger Mensch die 90-Jährigen fotografiert habe, hat eine 90-jährige Frau in New York auch 90-Jährige fotografiert. Damals habe ich beschlossen, dass ich so lange alte Menschen fotografieren möchte, bis ich selbst so alt bin. Ich denke, das wird mich mit allen Herausforderungen des Alters versöhnen. Das Wichtigste bei der Liebe im Alter ist die Nähe, die Berührung, die Umarmung. Aber man braucht nicht alles analysieren, meine Bilder sprechen für sich selbst. (30.5.2020)