Es war ein abenteuerliches Leben: Reich-Ranicki.

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Er war – so sein Kollege Joachim Kaiser – "Deutschlands meistgelesener, meistgefürchteter, meistbeobachteter, darum meistgehaßter Literaturkritiker". Seine größte Leistung, so hieß es nach seinem Tod im September 2013, bestand darin, die Literatur als gesellschaftliche Tatsache im allgemeinen Bewusstsein etabliert zu haben.

Man kannte ihn als den "Großkritiker" oder "Kritikerpapst". Viele schätzten und bewunderten ihn, andere rieben sich an ihm. Aus Polen gebürtig, in Berlin aufgewachsen, ein Überlebender des Warschauer Ghettos: Marcel Reich-Ranicki, der Herr der Bücher, der "Vorleser der Nation", wie ihn Friedrich Luft tituliert hat.

Was seine Privatheit betraf, so blieb er durch die Ghetto-Erfahrung lebenslang "gezeichnet". Er empfand sich als Außenseiter, schon als Kind in der deutschen Schule, wo seine Lesefähigkeit den Neid der Mitschüler erweckte. Später, als er in die Bundesrepublik kam, nach 1958, hat er dieses Gefühl des Fremdseins nie überwunden, auch nicht in den vielen Zeitungshäusern, denen er seine Feder lieh. Nicht in der "Gruppe 47", nicht in der Öffentlichkeit.

Er argwöhnte, dass man ihn nicht liebte. Und er bezog dies vor allem auf das schlechte Gewissen der Deutschen, die viele seiner Angehörigen umgebracht hatten. Ein lebenslanges Gefühl des Ausgegrenztseins. Reich-Ranicki freilich, dessen polternd-grimassierende Suada bei seinen Auftritten im Fernsehen einen beträchtlichen Unterhaltungswert garantierte, kannte seine Pappenheimer. Durch sein kritisches "Sprechamt" (Heine) war er so populär und mächtig geworden wie kein anderer aus seiner Zunft.

Seine regelmäßige Präsenz in den Medien war auch für das nichtlesende Publikum Grund genug, vorübergehend mit Zappen zu pausieren. Die Politik, auch die schuldbelastete Auseinandersetzung um die Position zum Staat Israel, war ihm dabei weitgehend gleichgültig. "Wer nicht unter Literaten gelebt hat, der kann nicht wissen, was Hass ist", zitierte er gerne Friedrich Sieburg.

Unerwiderte Liebe

Vermutlich war Reich-Ranicki selbst eine gewisse Boshaftigkeit nicht fremd, auch er konnte hassen. Darüber zerbrachen Freundschaften. Etwa die mit Walter Jens, dessen Sohn Tilmann dem "Großkritiker" geheimdienstliche Aktivitäten als Agent des polnischen Geheimdienstes nach 1945 angedichtet hatte. Reich-Ranicki blieb dabei, dass er sich nichts vorzuwerfen habe.

Martin Walser, dessen Buch Tod eines Kritikers sicherlich nicht die nobelste Form seiner Auseinandersetzung mit Reich-Ranicki war, soll über ihn gesagt haben: "Er liebt wohl die Literatur, aber leider liebt sie ihn nicht zurück." Günter Grass, dessen Weites Feld von Reich-Ranicki zerfetzt wurde, konnte diese These nur unterschreiben.

Nein, sie liebten ihn nun wirklich nicht, diesen Literaturkritiker in der Nachfolge eines Alfred Kerr. Doch auch wenn man seine Art mitunter als enervierend oder gar als Zumutung empfand, eines musste man ihm lassen: Meistens war er interessant. Oft war sein Urteil zugespitzt, ungerecht und anmaßend – häufig aber begründet.

Er fühlte sich den großen Autoren des 20. Jahrhunderts verbunden, unter dem Gesichtspunkt persönlicher Weggenossenschaft. So, als handle es sich um Gefährten, die sich irgendwann verabschiedet haben, deren Leben und Werk erst unter seiner Ägide zu Urteil und Bewertung gelangten.

Literatur als Spiegel

Als Interpret hat er sich all dieser Leben bemächtigt, schrieb "wir", wenn er "ich" meinte, sich auf Zugehörigkeit berufend, dabei eine gewisse Koketterie nicht leugnend. Es war mithin die geistige Nachbarschaft der außerhalb Stehenden, die seine Wahl bestimmte: Thomas Mann, Döblin, Musil, Kafka, Tucholsky oder Brecht.

Reich-Ranicki hat sich nur in der Literatur wiedererkannt. Eine andere Zugehörigkeit war ihm verschlossen. Er erlebte das Menschliche in der Literatur, ohne es in der Wirklichkeit zu erkennen. Im Grunde blieb er der klassische Fall eines Autodidakten, dessen Gedanken nicht immer subtil oder originell waren, ein Kritiker, gerecht und ungerecht, eitel auch, in jedem Fall aber ein Außenseiter, dessen Kosmos aus Papier bestand.

Das Polarisieren gehörte zu seinem Metier. Wie sollte er sich auch sonst Gehör verschaffen? Umso erstaunter war man, wenn sich zeigte, dass dieser Mann ganz anderer, zarter Töne fähig war – etwa in seinen Lebenserinnerungen, die mit der Kindheit im jüdischen Elternhaus in Polen einsetzen und mit einer poetischen Hommage an die Lebensgefährtin Tosia enden, zitiert nach Hofmannsthal: "Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, dass wir zwei beieinander sein."

Ein Leben träumen

Der Traum ein Leben, das Leben ein Traum. Es war ein abenteuerliches Leben. In der ersten Hälfte gefahrvoll und hart am Abgrund, ein jüdisches Schicksal, dem die Literatur, die deutschsprachige zumal, zur Rettung wurde. Polnische und jüdische Herkunft – das war schon schwierig genug. Die frühe Erfahrung des Außenseiters.

Mit 18 Jahren der Schock, die Deportation aus dem geliebten Berlin zurück nach Polen. Im Ghetto werden die Eltern ermordet. Reich-Ranicki überlebt. Mit Tosia, die er heimlich geheiratet hat, gelingt ihm die Flucht. Er verlässt das Geburtsland, das ihm nah und fern geblieben ist, und geht nach Deutschland.

Dass er trotz seiner Prominenz auch hier nie ganz heimisch geworden ist, bleibt als Fazit. Er war nicht das bücherzerreißende Monster, das der Literaturbetrieb kreiert hatte. Aber er bewegte sich ständig zwischen Apodiktik und Selbststilisierung – und zitierte dabei gerne das Schnitzlerwort: "Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug." (Wolf Scheller, 2.6.2020)