David Albahari: "Heute ist Mittwoch"
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
€ 22,70 / 208 Seiten
Schöffling, Frankfurt am Main 2020

Juri Andruchowytsch: "Die Lieblinge der Justiz. Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln"
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
€ 23,70 / 304 Seiten
Suhrkamp, Berlin 2020

Andrzej Stasiuk: "Beskiden-Chronik. Nachrichten aus Polen und der Welt"
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
€ 23,70 / 304 Seiten
Suhrkamp, Berlin 2020

Maryna Rakhlei: "Ein Treppenhaus in Minsk. Eine belarussische Geschichte."
€ 7,50 / 72 Seiten
Edition Fototapeta, Berlin 2020

Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben", schrieb Andrzej Stasiuk 2008 in Fado, einem Band mit Reiseskizzen. In seiner Beskiden-Chronik versammelt der Pole, der in den Beskiden, einem Teil der Karpaten im südlichen Polen rund zwanzig Kilometer entfernt von der Grenze zur Slowakei, lebt, 76 kürzere Texte. Diese verfasste er als Kolumne für ein polnisches Kulturmagazin.

Die Prosa des Sechzigjährigen war schon immer außerordentlich plastisch, er ist nicht selten weitaus mehr als nur ein teilnehmender sympathetischer Beobachter. Hier allerdings, gedrängt, auf in der Regel drei bis vier Buchseiten konzentriert, überwindet er die gängigen Genregrenzen des Feuilletons.

Wovon er durchgehend erzählt, was er mit großer Intensität beschreibt, das ist seine Passion – das Reisen. Und zwar das Reisen nach Osten. Weit nach Osten. Bis nach Astana, 2019 in "Nursultan" umbenannt, in Kasachstan fährt er mit dem Auto; und er ist immer mit dem Auto unterwegs, nimmt hie und da auch Anhalter mit. Hört stundenlang Radio. Erschaut die Landschaft, die Steppe, Flüsse und postpostmoderne Wolkenkratzerstadtlandschaften.

Weltraum-Verteidigung

Nur ein einziges Mal kommt seine Neugier sehr rasch an ihr Ende, und er fällt scharfe, vernichtende Verdikte. Dies im Text "Manhattan", in dem er einen Kurzaufenthalt in New York schildert. Manhattan zum Abgewöhnen, als Alb. Physisch ist die Abneigung.

Viel lieber erkundet er Mittelost- und Osteuropa, die Ukraine und Russland. Kommt in Orte wie Tarnobrzeg oder Włodawa oder Końskie. Kędzierzyn, Oleśnica, Leszno, Racibórz. Oder Kosch-Agatsch und Ongudai im Altaigebirge in Russland. Absurdes entdeckt er, künstliche Palmen, Desperates, Untergehendes, Diffundierendes.

Aber auch etwa Tschita in Transbaikalien, einst eine geschlossene Militärstadt, in der noch heute eine Brigade der Streitkräfte der russischen Luft-Weltraum-Verteidigung stationiert ist, dazu Luftlandetruppen. Dort erlebt er ein bacchanalisches, faschingsähnliches Fest, an dem nur die Soldaten teilnehmen und ausgelassen feiern. Stasiuk fallen immer wieder zauberhafte, großartige Episoden und Erlebnisse zu, Alltagsleben, Alltagskorruption, Alltagsverschwinden.

Feuer in der Unendlichkeit

Noch großartiger ist allerdings, wie Stasiuk Farbe in Sprache umsetzt, wie Farbnuancen bei ihm lebendig, konkret, natürlich werden. Und immer wieder taucht das zauberhafte Verb "streifeln" auf, eine schöne Wortfindung der sehr guten Übersetzerin Renate Schmidgall.

Einmal macht er nach stundenlanger Fahrt Rast und ein Lagerfeuer. "Es brannte niedrig, dicht an der Erde, vom Wind niedergedrückt. Funken flogen einem in die Augen wie feiner roter Sand. Man konnte sich in die Steppe zurückziehen und schauen, wie das Feuer in der dunklen Unendlichkeit kleiner und kleiner wurde. Außer ihm und dem dunkelblauen Glänzen des Flusses war nichts zu sehen. Vielleicht war es die Selenga, vielleicht der Delger Möön, vielleicht hatte er auch gar keinen Namen."

Die neue Alte Welt

Einen Namen hat auch das Wohnhaus im weißrussischen Minsk nicht, in dem die 1980 geborene, heute in Berlin lebende, beim German Marshall Fund tätige Maryna Rakhlei aufwuchs. Einen schmalen, lesenswerten Essay widmet sie nun diesem Ort, der als Nukleus für das ganze Land steht, für Belarus, das seit 25 Jahren dauerautoritär regiert wird von Alexsander Lukaschenko.

Rakhlei geht in Gedanken durch das Haus, präsentiert eine melancholische, gewalttätige, desperate, alles andere als sozialistisch solidarische Nachbarschaftsgeschichte nach der anderen. Es geht ihr um Identitätssuche, im Großen wie im Kleinen, später auch um demokratischen Aufbruch und dessen aktiv betriebenes Verglimmen, um Familien und deren Auflösung.

"Viele Länder der Alten Welt träumen heute nicht mehr", so Rakhlei. Und wenn, dann nostalgisch-reaktionär. Subjektive Soziologie ist das, feinfühlig und nicht zuletzt zu einem größeren Teil auch verzweifelt. Denn Rakhlei arbeitete in Minsk als systemkritische Journalistin für eine unabhängige Nachrichtenagentur, bis dies für sie aufgrund zahlloser Restriktionen, die sie nicht hinnehmen konnte, nicht mehr machbar war. Der Blick aus der Lebensabstandsferne ist auch ein geografischer. Und ein hochpolitischer.

Geschichte und Geschichten

Wer meint, der ukrainische Erzähler und Intellektuelle Juri Andruchowytsch aus Iwano-Frankiwsk habe sich mit seinem "parahistorischen Roman" Die Lieblinge der Justiz ein postmodern verspieltes Vergnügen bereitet, scheint nicht allzu falsch zu liegen. Liest man aber nacheinander die achteinhalb Erzählungen, die zwischen dem frühen 17. Jahrhundert und der eigenen Kindheit des 1960 Geborenen angesiedelt sind, aufmerksam, so entfaltet sich hier ein Panorama immer wiederkehrender Gewalt, des Todes, der Ächtung und der Politik.

Die Erkundung von Mittelost- und Osteuropa: Absurdes ist da zu entdecken, Desperates, Diffundierendes.
Foto: imago/Stefano Nostitz

Raffiniert changiert der Ton zwischen Chronik, abwägender pseudoakademischer Diskussion historischer Quellen und pittoresker Geschichte. Überschwänglich parodiert Juri Andruchowytsch teilweise haarsträubend das historische Romangenre. Und ist dann, etwa im "Sansara"-Kapitel, angesiedelt im Zweiten Weltkrieg, von bestürzender Tristesse und Verzweiflung.

Ganz anders erzählt der seit Jahren in Kanada lebende Serbe David Albahari, der inzwischen wieder einen Teil des Jahres in Belgrad verbringt, von Geschichte. Heute ist Mittwoch kommt schmal daher. Doch auf gerade einmal 200 Seiten gelingt es Albahari – wie vor zwei Jahren dem in Serbien lebenden, auf Ungarisch schreibenden Zoltán Danyi in seinem verstörenden Roman Der Kadaverräumer –, die blutige grausame Geschichte des untergegangenen Staates Jugoslawien zu erzählen – in Kammerspielbesetzung. Eine Tochter. Ein Sohn. Der Vater, verwitwet und inzwischen ein Pflegefall, von Parkinson geplagt und in die Demenz abrutschend.

Die Tochter verabscheut ihn, der Sohn will ihn, der einst ein Zwangsarbeiterlager überstand, verstehen. Sie unternehmen gemeinsam Spaziergänge. Und so wie das Promenieren sich in Schleifen vollzieht, so die Dialoge und die Erinnerungen des Vaters, der sich als Opfer und als Täter herausstellt, der als junger Aktivist brutal und erbarmungslos vorging und dann von politischen Kursänderungen des Tito-Regimes erfasst wurde.

Die Schatten der Schuld

Wie kommt eine Familie damit zurande, dass der Vater ein skrupelloser Denunziant war, folterte, die eigene Ehefrau in psychische Notlage trieb – und jetzt enthemmt und hilflos Angst hat, von früheren Opfern erkannt zu werden? Das ist trügerisch unterhaltsam, auch von grotesker Komik.

Doch das Lachen verdorrt sofort in diesem Roman des Anklagens, des Lamentierens, des Festhaltens und der Frage, was Gewissen ist, wie flexibel, wie fluide, wie dominant, wie opportunistisch dieses ist. "Statt dem Menschen zu helfen und ihn davon abzubringen, sich an die Seite des Bösen zu stellen, zieht sich das Gewissen ganz zurück und lässt seine Seele allein auf dem freien Schussfeld der Geschichte." Erst recht in Mittelost- und Osteuropa. Vor etwas mehr als zehn Jahren meinte Andrzej Stasiuk in einem Essay, dieser Teil Europas scheine "zu mentaler Unsicherheit, geistigem Waisentum und ewigen Minderwertigkeitskomplexen verurteilt zu sein. Alles ist mit Angst durchsetzt, mit Groteske und Staunen angesichts des Seins als solchem. Hier währt immer noch der Anfang, ziehen sich immer noch die ersten sechs Tage der Schöpfung hin." Dies zwischen den Flüssen Drina, Bug und Ischim doppelt, dreifach, mehrfach. (Alexander Kluy, 6.6.2020)