Elias Canettis Reflexionen treffen auch auf Wladimir Putin zu: "Denn die eigentliche Absicht des wahren Machthabers ist so grotesk wie unglaublich: Er will der einzige sein, er will alle überleben, damit keiner ihn überlebt." Nach zwanzig Jahren an der Macht stellt der 67-jährige Präsident Russlands Jahre vor dem Ablauf seines Mandats 2024 die Weichen, um durch eine Verfassungsreform womöglich bis 2036 im Kreml zu bleiben. Erst wenn er 84 Jahre alt wird, würde die neue Verfassung eine weitere Amtszeit ausschließen.

Bereits nach der überraschenden Ablöse der Medwedew-Regierung und der Ankündigung der Verfassungsreform stellte der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew fest, Putin habe beschlossen, für immer an der Macht zu bleiben. Wie auch immer die Machtstrukturen der Institutionen sich ändern, Putin befinde sich auf dem Höhepunkt seiner autokratischen Macht.

Wladimir Putin gilt, tritt die Flucht nach vorn an.
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Wäre das Coronavirus nicht gekommen, hätte die Bevölkerung längst über seine Verfassungsreform abgestimmt. Die Pandemie hatte ihn gezwungen, den Termin im April zu verschieben. Anfangs hielt der Präsident das Coronavirus, wie übrigens auch der britische Premier Boris Johnson, nicht für gefährlich. Die Pandemie fällt zeitlich mit den Auswirkungen der Ölpreiskrise und der wachsenden Arbeitslosigkeit zusammen. Laut der Energieexpertin Tatjana Mitrova werden die Exporteingänge heuer mindestens um 60 Prozent fallen. Bis Ende Juni schätzt man offiziell die Zahl der Arbeitslosen auf 2,5 Millionen. Alexej Kudrin, der Leiter des Rechnungshofes, rechnet allerdings mit acht Millionen Arbeitslosen. Bereits in den letzten fünf Jahren sind die Realeinkommen um 2,5 Prozent jährlich gesunken. Putins Zustimmungswerte sind auf einem Rekordtief.

Siegesparade

Obwohl Russland weiterhin täglich fast 9000 Neuinfizierte zählt und als das am drittstärksten von der Coronavirus-Pandemie betroffene Land weltweit gilt, tritt der unter unerwarteten Druck geratene Präsident die Flucht nach vorn an. Zusammen mit dem Ende der Ausgangssperre kündigte Putin die Abhaltung der Siegesparade mit 14.000 Soldaten am 24. Juni und die Abstimmung über die Verfassungsreform am 1. Juli an. Bereits am Tag nach der Parade über den Roten Platz können Wähler ihre Stimme abgeben. Wenn auch keine Mindestbeteiligung an der rechtlich nicht bindenden Abstimmung vorgesehen ist, möchte der Kreml laut regimekritischen Beobachtern mit Druck auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent sichern. Wegen der besonderen Corona-Regeln befürchtet die Opposition massive Manipulationen.

Laut Umfragen und Zeitungsberichten steigen die Unzufriedenheit und Protestbereitschaft im Land. In seinem zitierten Artikel schrieb Jerofejew, der reife Putin ähnele zunehmend dem späten Stalin, getrieben von der Angst, die eigene Elite könnte sich letztlich gegen ihn erheben. Sein Vergleich mag überzogen klingen. Die Zeit Putins als Sicherheitsanker, als Garant der politischen Stabilität und des steigenden LebensStandards scheint jedenfalls vorbei zu sein. (Paul Lendvai, 15.6.2020)