Seit Menschengedenken gibt es Boten. Viele der heute existierenden Vermittlungsinstitutionen und -techniken leiten sich von dieser besonderen Rolle ab, die in jeder Kultur der Welt zu finden ist. Zahlreiche mythologische Gestalten in alten Kulturen wie Specht und Elster bei den Germanen, Rabe und Taube bei den Hebräern und der Götterbote Hermes der Griechen legen Zeugnis davon ab. Die Engel der monotheistischen Religionen werden als Boten betrachtet, und so bezeichnet das deutsche Wort Engel, das vom griechischen Wort "angelos" stammt, nichts anderes als den Boten.

Das Bedürfnis, Neuigkeiten an andere Personen zu übermitteln, ist schließlich eng mit der Menschheitsgeschichte verbunden. Aus der Grundrolle des Boten lassen sich auch weitere Funktionen ableiten, wie etwa die des Kuriers, der die Überbringung auch von Objekten übernahm, oder etwa der Staatsbote, der wichtige geheime Botschaften politischer Natur übermittelte. Wohlbekannt ist aus der Geschichte die Bestrafung des Übermittlers von schlechten oder unerwünschten Nachrichten, den sogenannten Hiobsbotschaften.

Der englische Ausspruch "Don't kill/shoot the messenger!" bringt dies wohl am besten zum Ausdruck, denn es kam vor, dass der Überbringer schlechter Nachrichten bestraft wurde, sogar mit dem Tod. Im Lauf der Zeit, vor allem als Folge der Verschriftung, entwickelte sich aus der gesellschaftlichen Funktion des Boten schließlich der Beruf des Postboten beziehungsweise der Post als Institution, die in modernen Kulturen so zentral ist, dass sie lange in staatlicher Hand war oder es zum Teil noch heute ist. Eine hochentwickelte politische Sonderform des Boten wiederum, der Agent, ist in ein breites Netz von Geheimdiensten eingebettet. Es ist daher kein Zufall, dass ein Buch über Julian Assange den Titel "Don't kill the messenger!" trägt.

Der Bote im albanischen Gewohnheitsrecht

Die strikte Trennung der Aufgaben des Boten ist keine Erfindung der modernen Gesellschaften. Kulturell wird nämlich seit jeher zwischen Überbringern politischer Botschaften und solchen, die private Nachrichten übermitteln, unterschieden. Selbst zwischen guten und schlechten Nachrichten wurde so stark unterschieden, dass es zu unterschiedlichen Bezeichnungen ihrer Überbringer kam. So kennt das albanische Gewohnheitsrecht, auch als Kanun bekannt, den Oberbegriff "lajmëtari" für den Boten, doch wird zwischen drei verschiedenen Botenrollen differenziert. Demnach ist ein "grishsi" der Überbringer von guten Nachrichten und Einlader zu fröhlichen Anlässen, ein "fjaltori" der Überbringer von schlechten Nachrichten, etwa von Todesfällen, und schließlich der "kasnec", der Überbringer der Beschlüsse des Ältestenrates, der "pleqёsia" genannt wird.

Das albanische Gewohnheitsrecht legt in vielen Regelungen auch den Schutz des Boten unabhängig vom Inhalt seiner Botschaft fest. Zu diesen Regelungen gehört etwa auch der freie Zugang zu allen Gebieten eines Familienverbands – unabhängig davon, welchem Familienverband der Bote selbst angehört. Sein Schutz war nach dem Gewohnheitsrecht somit eine Verpflichtung, und wenn diese verletzt wurde, konnte das mitunter auch mit der Blutrache geahndet werden.

In geschlossenen Gebieten eines Familienverbands war der Schutz des Boten natürlich besser gewährleistet als in Fällen von territorial versprengt siedelnden Segmenten, die vllaznia ("Brüderschaften") genannt wurden. Hier war die Rolle des Boten zwar gefährlicher, aber auch gesellschaftlich wichtiger, da er gleichsam dafür sorgen konnte, die (groß-)familiäre Zugehörigkeit über die Distanz aufrechtzuerhalten. Der Bote musste jedenfalls ein Mann von guter physischer und psychischer Verfassung sein und zudem über ein besonders gutes Gedächtnis verfügen, denn die Übermittlung von Botschaften erfolgte mündlich. Der Bote durfte jedoch kein Fremder oder ein Nachbar sein, sondern musste aus dem betreffenden Familienverband stammen. Mit seiner Rolle kam ihm eine besondere Ehre zu, denn bei frohen Nachrichten, wie etwa der Geburt eines Sohnes, wurde er von den Empfängern der Nachricht reichlich beschenkt. Der Auserwählte war schließlich verpflichtet, die Botenrolle anzunehmen, unabhängig von Anlass, Entfernung, Wetter und politischer oder wirtschaftlicher Lage. Nur sein schlechter Gesundheitszustand konnte ihn von seiner Aufgabe entbinden.

Der Bote in Dibra

Dibra ist eine Grenzregion zwischen den Staaten Albanien und Nordmazedonien. Die Grenze zwischen Albanien und dem Königreich Serbien (später Jugoslawien) wurde im Jahre 1913 politisch festgelegt, 1925 definitiv gezogen, 1948 nach dem albanisch-jugoslawischen Bruch gänzlich geschlossen und erst 1991 wieder passierbar gemacht. Diese Grenze verlief mitten durch die zerstreuten Siedlungen mehrerer Familienverbände.

Der Schwarze Drin (Drini i Zi) bildet wie hier bei Gjoricë e Poshtme die Grenze zwischen Nordmazedonien und Albanien. Die Boten mussten den Fluss manchmal auch schwimmend überqueren, denn die wenigen Brücken wurden schon 1948 gesprengt.
Foto: Lumnije Jusufi

Durch die Grenzziehung schränkte sich der Bewegungsradius der Boten stark ein, und die Möglichkeiten der Überbringung von Botschaften wurden zunehmend kompliziert. Wichtig war es nunmehr, eine Botschaft überhaupt erfolgreich zu überbringen. Die Auswahl eines Boten hing ferner davon ab, ob er seine Nachricht innerstaatlich zu überbringen hatte oder aber die Grenze überqueren musste. Hatte er seine Aufgabe innerhalb der Staatsgrenzen zu erfüllen, unterlag er weiterhin den oben genannten Regeln.

Ein Grenzübertritt hingegen war mit anderen Voraussetzungen verbunden, und bei der Auswahl dieser Boten lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, ab 1948, als die staatlichen Grenzwächter von außerhalb der Region stammten und das Gelände nicht gut kannten, wurden junge sportliche Männer ausgewählt, die mit dem Terrain vertraut waren, um nachts durch Schlupflöcher die hermetisch abgeriegelte Grenze zu passieren. Diese Boten überbrachten dann alle Art von Neuigkeiten und Nachrichten, wichtige Ereignisse, aber ebenso Klatsch und Tratsch. Die vielfältigen Aufgaben, die der Bote zu übernehmen hatte, können gut mit den Worten des Schriftstellers Eqrem Basha wiedergegeben werden. In seinem von der Staatsgrenze bei Dibra handelnden Roman "Varrë" (deutsch Linie) schreibt er:

"[…] Wenn man, mit der Mission des Boten betraut, sich aufmachte, um zu einer Familienfeier einzuladen oder eine Todesnachricht zu überbringen, einen Verwandten zu besuchen oder eine Verlobung bekanntzugeben, konnte einen niemand daran hindern. […] Die Athleten der Grenze waren unsere Post, unsere kasnec und unsere echten Verbindungen. […] Die Aufgaben waren zahlreich und vielfältig. Ein Glückwunsch oder ein Beileid sollte überbracht werden, eine Braut abgeholt oder begleitet werden, ein gegebenes Wort übermittelt werden oder ein letzter Wille realisiert werden […]."

Der Autor spricht hier von Einladungen zu Familienfeiern, die angesichts der doch geschlossenen Grenzen überraschen. Nach dem gesellschaftlichen Verständnis familiärer Zusammengehörigkeit mussten Einladungen jedoch weiterhin erfolgen, auch wenn allen Beteiligten klar war, dass ihnen niemand Folge leisten konnte. Das Zitat erwähnt auch Vermählungen über die Grenze hinweg, die wohl noch zu Beginn der Grenzschließung stattgefunden hatten. Später war auch das nicht mehr möglich.

Oder auch an einer anderen Stelle:

"Wir hatten ein System von kasnec und Boten über alles, was mit dem anderen Teil der Familie jenseits der Grenze passierte. Diese geübten Athleten, die die Methoden der Überlistung des Wachdienstes kannten und unsere Beziehungen mit dem dortigen Flügel am Leben hielten, hatten zur Aufgabe, unter anderem auch die Statistiken der getrennten Familien aufrechtzuerhalten, über Geburten, die Ausdehnung einer Großfamilie, Verlobungen, Vermählungen, aber auch über Todesfälle zu berichten."

Postkarte von Debar (1932).
Foto: public domain

Unpassierbarer Weg

Dass ein Bote nachts die Grenze überschritten hatte, bemerkten die Grenzbehörden erst am nächsten Tag, als sich eine neue Nachricht längst verbreitet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der Bote aber schon entkommen. Als die Behörden schließlich diese List durchblickten, wurden die auswärtigen Grenzwächter durch Personen aus der Region ersetzt, die das Terrain gut kannten. Zwischen 1955 und 1960 wurde die Grenze dadurch gleichsam unpassierbar. Damit wurde die Kommunikation erheblich eingeschränkt, und nur noch wenige Nachrichten, zumeist Todesnachrichten, gelangten auf die andere Seite der Grenze.

Die Voraussetzungen für die Auswahl eines Boten änderten sich erneut, und alle bisher gültigen Regeln fielen weg, da nunmehr die Überbringung der Botschaft um jeden Preis im Vordergrund stand. Den Auftrag dazu erhielten von da an einige in der Gesellschaft bekannte und gleichsam gehasste wie gefürchtete, von den Regimen beider Staaten ausgesuchte Männer, die als Einzige noch Reisefreiheit genossen. Da diese die Grenze passierten, obwohl es ja sonst niemandem erlaubt war, lag der Verdacht nahe, dass sie Agenten sein müssten. Und diese Personen brachten überwiegend schlechte Nachrichten von gescheiterten Fluchtversuchen, die von Gefangennahme oder sogar dem Tod an der Grenze handelten.

Mit der Öffnung der Grenze nach der Wende von 1991 wurden zwar die Wege wieder frei für die Boten, doch erreichte die moderne Telekommunikation auch die Region Dibra. In rascher Abfolge wurden Festnetz, Mobiltelefon und schließlich das Smartphone eingeführt, die heute zur Grundausstattung eines jeden Boten gehören, bei dem es sich wieder um einen jungen Mann handelt, der sich die Nachricht zwar nicht mehr merken muss, dessen technische Versiertheit aber dennoch gesellschaftliche Wertschätzung findet. Die modernen Kommunikationsmittel mögen auf den ersten Blick den Boten überflüssig erscheinen lassen, doch lebt hier bei bestimmten Anlässen eine Tradition weiter. Zwar werden Mitteilungen zu anstehenden familiären Ereignissen mit diesen moderneren Kommunikationsmitteln versendet, die eigentliche Einladung zu den diversen Veranstaltungen aber, die traditionsgemäß eine Woche vor einer Feier erfolgt, wird nach wie vor durch den Boten persönlich vorgenommen. (Lumnije Jusufi, 26.6.2020)