Sozialmarkt in Wien, wo bedürftige Menschen günstig einkaufen können: Tut auch die Regierung genug für die Ärmeren im Land?

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Armutsbekämpfer Schenk sieht blinde Flecken im türkis-grünen Krisenmanagement.

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Wien – Von wegen Entspannung: Nach dem Sommer könnte die Krise erst so richtig eskalieren, befürchtet Martin Schenk. Der Aktivist der Armutskonferenz meint damit nicht eine etwaige zweite Viruswelle, sondern die entfachte soziale Not. Läuft im Herbst die Kurzarbeit aus, werde sich zeigen, wie viele Menschen ohne Job übrig bleiben – und nach dem Ende von Kreditstundungen und Zahlungsaufschüben bei Steuern und Sozialversicherung drohe ein Schub an Privatinsolvenzen. Die Schuldnerberatung rechnet mit bis zu 50 Prozent mehr Klienten als in normalen Jahren.

Schenk will keinesfalls behaupten, dass die Regierung die Gefahr der sozialen Krise ignoriere. ÖVP und Grüne hätten vieles richtig gemacht, urteilt der Sozialexperte im STANDARD-Gespräch und hebt den raschen Einsatz der Kurzarbeit als erstes Mittel gegen die Arbeitslosigkeit hervor. Doch leider kam auch so manche Hilfszahlung spät oder noch gar nicht bei den Betroffenen an, schickt er nach. So gab die Regierung etwa erst vor zwei Tagen grünes Licht für jene 13 Millionen Euro, die als Überbrückungshilfe für einkommensschwache Familien, die Mindestsicherung oder Sozialhilfe beziehen, gedacht sind. Im Juli soll nun endlich Geld fließen.

Da räche sich, dass die Regierung die Menschen zu Bittstellern bei verschiedenen, immer wieder nachgebesserten Fonds mit verwirrenden Kriterien gemacht habe, statt Geld über die bewährten Schienen des Sozialstaats auszuschütten, sagt Schenk. Eine Erhöhung der Ausgleichszulage (eine Art Mindestpension), des Arbeitslosengeldes oder der entsprechenden Familienzuschläge hätte den wirklich bedürftigen Bürgern treffsicher helfen können – und so manchem davon den mühsamen Weg in eine bürokratische Sackgasse erspart. Von dieser Kritik ausgenommen: Der Bonus von 360 Euro pro Kind, der quasi als zusätzliche Rate der Familienbeihilfe ausbezahlt wird.

Kluft an den Schulen

Weitgehend vermisst Schenk im bisherigen Krisenprogramm ein Mittel gegen die soziale Kluft an die Schulen. Schon bisher war zu beobachten, dass Kinder aus finanziell schwach situierten Familien in den schulischen Leistungen vielfach zurückbleiben, der Lockdown dürfte das Problem verschärft haben: Wer in engen Wohnungen lebt, Unterstützung der Eltern ebenso vermisst wie einen starken Computer mit schnellem Internet, tut sich beim Homeschooling schwer. Eine Studie des Instituts für Höhere Studien zeigt, dass Lehrer bei jenen Schülern viel häufiger einen Kompetenzverlust feststellten, die bereits vor den Schulschließungen benachteiligt waren (DER STANDARD berichtete). Eine zweite Welle droht das Problem zu potenzieren.

Um gegenzusteuern, müsse die Koalition das Rad gar nicht neu erfinden, sondern einfach in das eigene Arbeitsprogramm schauen, rät Schenk. Dort findet sich der Plan, Schulen "mit besonderen Herausforderungen – landläufig als Brennpunktschulen bekannt – mit mehr und maßgeschneiderter Unterstützung auszustatten, ganz generell ist von zusätzlichem Supportpersonal – vom Sozialarbeiter bis zum Psychologen – die Rede. Statt dies irgendwann umzusetzen, sollte die Regierung unter dem Eindruck der Krise sofort starten, so die Forderung.

Psychische Spätfolgen

In der Wunschliste der Armutskonferenz decken sich noch weitere Punkte mit dem türkis-grünen Koalitionspakt vom Jahresbeginn. Straßenzeitungsverkäufer, Erwerbslosenverbände, Alleinerzieherinnen-Plattformen und andere Gruppen drängen darauf, dass der anvisierte Unterausschuss "Armutsbekämpfung" im Parlament eingesetzt wird, damit die Stimmen der eigentlich Betroffenen nicht – wie bisher vielfach beklagt wird – überhört werden. Und noch ein Vorhaben sei seit der Coronakrise dringlicher denn je: der Ausbau diverser Therapieangebote für Kinder, speziell für psychische Erkrankungen.

Experten gehen davon aus, dass sich bei einem Teil der Kinder in den nächsten Monaten psychische Folgen des Ausnahmezustandes der Isolation zeigen werden. Der Kinderpsychiater Christian Kienbacher etwa rechnet unter Berufung auf Studien bei einem Drittel mit Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Doch schon jetzt fehlen laut Liga für Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich über alle Bereiche gerechnet an die 80.000 kassenfinanzierte Therapieplätze.

Einsatz für Arbeitslose

Wenig Ambition kann Schenk bis dato auch bei den Anstrengungen entdecken, Arbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen. Neben diversen Förderprogrammen könnten Investitionen in soziale Dienstleistungen ein Motor sein, der abgesehen von mehr Jobs und Kaufkraft noch einen Mehrwert verspreche, meint der Aktivist: Frauen bekämen bessere Chancen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, auch wirtschaftlich schwache Regionen am Land würden aufgepäppelt.

Schnittmengen mit der Regierung gibt es da ebenfalls. Sozialminister Rudolf Anschober (Grüne) hatte bei Amtsantritt eine Pflegereform zu seinem Hauptziel erkoren. Doch dann kam Corona. (Gerald John, 3.7.2020)