Eine schwere Geburt, aber alle Strapaz wert. Das Album "100% Yes" von Melt Yourself Down ist eines der bislang besten des Jahres.

Foto: Universal Music

Ein Kind mit drei Geburtstagen, das ist selten. Doch der Band Melt Yourself Down ist so ein Baby passiert, einem Virus sei’s gedankt. Ihr Album wurde in Großbritannien noch im April veröffentlicht, andernorts war da schon die Notbremse gezogen worden. In einen Lockdown von noch nicht bekannter Dauer in vielen Ländern wollte die Plattenfirma das Album lieber nicht weiter veröffentlichen. Der Verdacht, die Prioritäten der Welt könnten woanders liegen, wog zu schwer.

Eine kleine Weltwirtschaftskrise später ist 100 % Yes nun auf dem Kontinent erschienen. In Deutschland schon im Juni, Österreich folgte im Juli. Drei Geburtstage zu feiern mag anstrengend sein, doch dieses Werk war es wert. Das Baby mit den drei Geburtstagen ist ein Monster.

Veitstanz

100 % Yes ist das dritte Studioalbum der seit 2013 veröffentlichenden Formation. Sie bewegt sich auf einem Feld, auf dem sich Jazz, Punk, Afrobeat und ein aus vielen Winkeln der Erde gespeister Pop zum Veitstanz treffen.

Eine Mischung so vieler Stile ist oft vor allem eines: zu viel von allem und für die Ohrwascheln anstrengend, nicht das hier.

MeltYourselfDownVEVO

100 % Yes liest sich schon wie eine Diagnose, wie die kürzest zulässige Kritik dieses Albums. Draußen, auf dem trockenen Feld der Theorie, mag der Titel protzig wirken. Sobald die Gruppe um Pete Wareham aber loslegt, läuft der Beweis, dass hier jeder alles gibt, dieser Haltung aber dennoch der Wille zum Verzicht innewohnt. Wie man sich das vorstellen soll? Vielleicht so: Statt fünf Explosionen zu zünden, verzichtet jeder auf vier, schaut aber, dass die eine alle anderen wettmacht.

Saxofon unter der Gürtellinie

Wareham ist eine umtriebige Figur im britischen Jazz. Er unterhält neben Melt Yourself Down noch den seit gut 20 Jahren berserkernden Jazz-Punk-Verein Acoustic Ladyland und nicht viel kürzer die Gruppe Polar Bear. Ebenfalls eine die Grenzen des Jazz hin zur Dancemusik, dem Funk und der Elektronik überschreitende Formation. Da gibt es einige personelle Überschneidungen mit Geistesverwandten wie den Sons Of Kemet oder The Comet Is Coming. Alles super, aber nicht wie Melt Yourself Down.

Melt Yourself Down

Hier klingen Songs wie Every Single Day, als hätte jemand dem jungen David Byrne von den Talking Heads Geschwindigkeit in den Grüntee gemischt. Das passt. Denn die Gruppe nennt sich nach dem Werk eines anderen Würdenträgers der New Yorker Downtown-Szene der frühen 1980er-Jahre, nach einem Album von James White. Der prüfte damals die zwischen Punk, Funk und Disco angesiedelte No- und New-Wave mit Saxofonstößen unter die Gürtellinie.

Dance-Rock-Revival

Er gehört damit zu den Ideengebern des Dancerock-Revivals der Nullerjahre, als Bands wie The Rapture oder LCD Soundsystem die Musik dieser Ära hochleben ließen. Chance als kleiner misanthropischer Querschläger erfuhr da immer zu wenig Beachtung, zu ungeliebt ist das Saxofon im Rockkontext, meist zu Recht. Da braucht es schon einen Bewunderer wie Wareham, der das im richtigen Geist ins rechte Licht rückt. Dabei ist Melt Yourself Down keine Revivalband.

Hupe in der Pfanne

Es ist eine auf eigenem Feld arbeitende Eingreiftruppe, die wuchtige, uneitle Angriffe auf den Dancefloor ausführt. Soli? Fuck off. Viel näher steht Melt Yourself Down dem Disco-Funk von Gruppen wie Liquid Liquid oder Konk. Wobei das fett in die Pfanne huppende Saxofon Warehams der Sache einen extra Schuss Schärfe verleiht.

100 % Yes macht keine Gefangenen. Zartbesaiteten mag es zu anstrengend klingen, stimmt schon: Der Freund der Ballade wird damit keine Freude haben. Wer aber eine Party hochgehen lassen möchte, braucht dafür nur dieses eine Album. (Karl Fluch, 15.7.2020)