Ein afroamerikanisches Geschwisterpaar ringt in dem Filmdrama "Waves" um die heikle Balance zwischen Gut und Böse: Kelvin Harrison Jr. (im Bild mit Alexa Demie).

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Das stürmische Filmdrama Waves galt im Herbst letzten Jahres als eine der großen Entdeckungen des US-Independent-Kinos. Im Mittelpunkt steht ein Geschwisterpaar aus einer afroamerikanischen Familie der Mittelschicht – der athletische Tyler (Kelvin Harrison Jr.) und seine Schwester Emily, die Taylor Russell mit so großer Intensität verkörpert, dass sie schon als kommender Star gehandelt wird.

Ungefähr in der Mitte des Films kommt es zu einem tragischen Ereignis, das alles auf den Kopf stellt und damit das familiäre Gefüge zu zerreißen droht. Druckvoll und rasend folgt der junge Texaner Trey Edward Shults davor Tylers Wegen, der von den Anforderungen seines Vaters, einer ersten Liebe und seinem aufbrausenden Gemüt zunehmend aufgezehrt wird. Im zweiten, nach dem Unglück einsetzenden Part ruht der Film auf Emily und bewegt sich im Modus von Schmerz und Erlösung.

Shults' Stil ist eine aufregende Mischung aus veristischen wie poetisch überhöhten Mitteln, wie sie das US-Südstaaten-Kino immer wieder neu erfindet. Bei einem Gespräch in London zeigt er sich als sympathisch offener Mensch, der die viele Zustimmung zu seinem Film noch gar nicht recht glauben kann.

STANDARD: Waves handelt von einer Jugend unter Druck, die sich ständig beweisen muss. Hatten Sie ein Generationenporträt im Sinn?

Shults: Man geht immer von Dingen aus, die man selbst erlebt hat. In diesem Fall: ich als Jugendlicher. Diese Erfahrung galt es dann für unsere Zeit, für das Jetzt glaubwürdig zu gestalten. Alles entstand organisch. Ich könnte mich niemals hinstellen und sagen: "Ich drehe einen Film über eine Generation." Es ist eher umgekehrt, vom Inneren gelangt man langsam nach außen. Die Zeit, in der wir in den Staaten jetzt gerade leben, die Situation dieser Familie, all das legt sich übereinander und erzeugt riesigen Druck, Wellen. Es ist weit weg von Jugendfilmen wie American Graffiti oder Dazed and Confused.

STANDARD: Ungewohnt ist auch die Erzählstruktur: In der Mitte gibt es einen Bruch, einen Riss. Wie ist diese Form entstanden?

Shults: Ich hab nach einer Art Epiphanie gesucht, die das Ganze zusammenhält. Der Film kreist um Gegensätze, die unser Dasein bestimmen. Doch trotz dieser Hochs und Tiefs, trotz Liebe und Hass, der Frage nach dem Guten und dem Bösen wird unser Leben selten von Extremen, sondern vom schmutzigen Grau dazwischen beherrscht. Mir ging es um diese Dynamik selbst, das Werden. Also dachte ich: Ist es nicht sinnvoll, den Film gleich in zwei Hälften zu teilen? In zwei Perspektiven und Teile, in Bruder und Schwester, weil die Verbindung von Geschwistern einzigartig ist.

STANDARD: Sie sagen, vieles sei persönlich erlebt – wie verhält sich das dann zu dem Umstand, dass Sie von einer afroamerikanischen Familie erzählen?

Shults: Das meiste ist semiautobiografisch. Und damit beziehe ich mich nicht auf den weißen Luke im zweiten Teil des Films, ich fühle mich tatsächlich näher zu Tyler. Ich habe selbst viel Zorn und Ärger in mir verspürt als Jugendlicher, auch die Schulter habe ich mir auf dieselbe Art verletzt wie er. Ich wollte unbedingt wieder mit Kelvin Harrison Jr. zusammenarbeiten, und auch er fühlte sich zur Figur Tylers hingezogen, also haben wir das Drehbuch gemeinsam entsprechend überarbeitet.

STANDARD: Das heißt, die spezifische Befindlichkeit gegenüber den Ambitionen von Schwarzen, dass sie sich nicht gut genug fühlen, mehr Anstrengung investieren, das kam von ihm?

Shults: Es war ein kollaborativer Ansatz. Wir haben Therapiestunden gehalten: Da haben wir uns über die Analogien unserer beider Jugend ausgetauscht. Wir wuchsen beide in den Südstaaten auf, in der oberen Mittelklasse, wir hatten Probleme. Natürlich gab es auch Unterschiede – offensichtlich was Rasse und Hautfarbe anbelangt. Ich wollte Kelvins Erfahrungen, die seiner Eltern, den Ballast, der sich zwischen Generation anhäuft, wirklich verstehen. Nachdem ich das Skript fertig hatte, wollte er immer noch Tyler spielen. Danach ging es um Feinarbeit. Wir wollten die Familie so genau und authentisch wie möglich haben. Nur dann wird es universell gültig.

STANDARD: Ästhetisch ist der Film so angelegt, dass er einen an den Konflikten fast physisch partizipieren lässt. Die Kamera, aber auch der Ton sind dabei zentral. Wie wurde das vorbereitet?

Shults: Es sollte subjektiv sein, und zugleich eine hohe immersive Qualität haben. Die Figuren, Tyler und Emily, gaben stets vor, was wir machen müssen. Alles sollte emotional oder spirituell wahrhaftig sein, damit man ihren inneren Zustand mitfühlen kann. Das war auch für das Sounddesign und die Musik die Richtlinie: Egal, ob es naturalistisch oder eher expressionistisch ist, in Bezug zum Geisteszustand der Figur musste es sich richtig anfühlen. Ich weiß, das ist eine eher allgemeine Antwort …

STANDARD: Keineswegs. Aber um die Kamera in einer bestimmten Situation zu thematisieren: Es gibt diesen 360-Grad-Schwenk gleich zu Beginn.

Shults: Ja, auch das ist keine Zauberei, wir haben nur versucht, nicht im Weg zu stehen. Wir haben mit zwei Kameras vom Rücksitz aus gedreht und die Brennweite nicht geändert. Wir wollten die chaotische Freiheit einer jungen Liebe einfangen. Später, wenn sie in die Untersuchungsklinik kommen, ist die Kamera eine "fly on the wall". Das Motto hieß: so real wie möglich. Die Inspiration für die Szene kam eigentlich von Raging Bull (Wie ein wilder Stier), bei dem ich stets das Gefühl hatte, ich sähe etwas Verbotenes.

STANDARD: Sie haben bei Regisseur Terrence Malick mitgearbeitet. Das war Ihre Filmschule, stimmt das?

Shults: Als ich 19 war, ging ich für den Sommer nach Hawaii, weil meine Tante dort lebte. Wir haben B-Roll für Terrence Malicks Voyage of Time gedreht, das war der Beginn. Es hat mein Leben verändert. Ich habe dann auch bei Song to Song mitgearbeitet. Ich wusste zwar nie, wie "normale" Filmsets funktionieren, aber mir war klar, dass es nicht so sein kann. Terry macht seine Filme auf eine Weise, wie nur er sie realisieren kann. Die Frage für mich war, ob ich das auch in mir hatte. Ich wusste es nicht, ehrlich gesagt. Aber ich musste es herausfinden. (Dominik Kamalzadeh, 16.7.2020)