Geschwungene Schreibschrift ist typisch für Wien, in Berlin gerieten die Schilder der 50er-Jahre eckiger.

Foto: Klaus Pichler

Roland Hörmann und Birgit Ecker retten die Handschrift Wiens.

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"Stehweinhalle". "Hundesalon Irmi". "Münzwäscherei". Was es hier nicht alles gibt! Ich weiß noch, wie beeindruckt ich war, als ich Provinzkind im Volksschulalter zum ersten Mal mit dem 49er vom Bahnhof Hütteldorf hinein in die große Hauptstadt gefahren bin. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wien, das wusste ich damals schon, würde einmal meine Heimat werden. Dekaden später bekomme ich von meinem Kind durch das Straßenbahnfenster Wien vorgelesen: "Blumen". "Elektro". "Mama, was heißt ,Wettbüro‘?"

Der Daseinszweck von Fassadenbeschriftungen ist es, Orte zu definieren und Aufmerksamkeit zu erzeugen. So bilden sie die Handschrift der Stadt, und die Schrift-Sprache, in der sich ihr Charakter offenbart. Kinder lernen mit ihnen, ihre Stadt zu lesen – und Erwachsenen erzählen sie Geschichten von wirtschaftlichen Erfolgen und privaten Tragödien, von alten und neuen Zeiten, von Erwartungen und Enttäuschungen, vom "Wien, wie es einmal war", zumindest in unseren Köpfen.

Am Anfang stand ein Baucontainer, aus dem inmitten von Schutt ein kleiner Schatz hervorblitzte: "Fußpflege". "Als Grafiker, der auf Schriftgestaltung spezialisiert ist, haben mich Fassadenbeschriftungen natürlich schon immer fasziniert", erzählt Roland Hörmann. Also bekam die Fußpflege prompt eine neues, liebevolles Zuhause. Als erste von vielen. "Immer mehr alte Geschäfte und Lokale werden geschlossen und die Beschriftungen, die oft jahrzehntelang wesentlicher Teil des Straßenbildes waren, einfach verschrottet." Kulturgut geht hier verloren, war Hörmann und seiner Partnerin, der Kulturmanagerin Birgit Ecker, klar – und so gründeten sie 2012 den Verein Stadtschrift: "Zur Sammlung, Bewahrung und Dokumentation historischer Fassadenbeschriftungen".

Durch die Schrift erkennbar

Viele Großstädte mit Charakter lassen sich durch ihre Fassadenbeschriftungen und Lichtreklamen recht eindeutig identifizieren – New York, Miami, L.A., Paris, Moskau, Rom, ein Blick auf einen Straßenzug genügt, wir wissen, wo wir sind, da braucht’s weder Eiffelturm noch Kreml. Manche sind gar ihre eigenen Ikonen: Las Vegas etwa ist die Stadt, in der – wie der amerikanische Journalist und Schriftsteller Tom Wolfe so schön sagte – sogar die Skyline selbst nicht aus Gebäuden, sondern aus neon signs besteht.

In Wien ist das alles weniger theatralisch. Aber auch hier hat sich im vorigen Jahrhundert ein sehr charakteristischer Stil der Beschriftung von Geschäften, Lokalen etc. entwickelt. "Die geschwungenen Schreibschriften aus den 50ern und 60ern sind zum Beispiel sehr typisch für Wien", so Hörmann. "In Berlin war ein viel kantigeres Schriftbild üblich." Doch diese Zeugnisse der Marktwirtschaft, wie sie einmal war, verschwinden immer schneller aus dem Stadtbild. Kleine Einzelgeschäfte werden von Filialen großer, international uniformer Ketten und deren Logos abgelöst, die Individualität verschwindet.

In Wien widmen sich einige Privatinitiativen der Dokumentation der verschwindenden Stadtbilder, etwa Tom Koch mit seinem Projekt "Ghostletters Vienna", das die Spuren alter Stadtschriften zeigt und auch in Buchform erschien, oder Achim Gaugers Viennacitytypeface auf Instagram. Und eben Stadtschrift. Mittlerweile hat der Verein bereits etwa 130 Objekte vor der Vernichtung gerettet. Das vordergründige Ziel ist aber nicht das Sammeln, sondern das Bewahren der Schriften, und zwar dort, wo sie hingehören: im öffentlichen Raum. Mittels "Mauerschauen" kommen Exponate, nach Themenbereichen kuratiert, wieder zurück in die Stadt: Auf geeigneten Feuermauern, die von der Straße aus für alle einsehbar sind – zurzeit im zweiten Bezirk, am Ludwig-Hirsch-Platz. Einige besonders schöne Schriften gibt’s auch nach telefonischer Anmeldung im Schauraum in der Liniengasse zu besichtigen (Info: Stadtschrift.at).

Für Ecker ist wichtig: "Wir wollen kein Museum mit Eintrittsgeld und schon gar keinen Vintage-Handel betreiben. Unsere ,Mission‘ ist es, diese Schriften wieder ins Wiener Stadtbild zurückzubringen." Am liebsten wäre Ecker, wenn die alten Schriften einfach bleiben dürften: "So wie etwa beim Lokal Die Herknerin auf der Wieden, da hängen immer noch die wunderschönen alten Lettern des früheren Installateurbetriebs."

"Tuats as weg"

Angekauft werden Exponate nicht. Alleine die Demontage, Abholung und Renovierung kosten genug an Zeit und Geld. Finanziert wird der Verein überwiegend durch Spenden – öffentliche Förderungen gibt es fast keine. Und wie kommen Eckel und Hörmann an ihre Prachtstücke? "Durch viel Nachfragen, Nachschauen, Informationen von Freunden und Bekannten." Das Team dokumentiert auch so viele alte Fassadenbeschriftungen wie möglich. "Wenn wir von einer Schließung erfahren, dann melden wir uns, um zu retten, was zu retten geht." Das ist oft nicht einfach – besonders bei aufgelassenen Lokalen sind die Verantwortungen meist unklar.

Als die legendäre Unterwelt-Tschumsn Café Herta (das Stammlokal vom "Roten Heinzi") in Simmering Ende 2012 endgültig schließen musste, durften Ecker und Hörmann die uralte Fassadenbeschriftung abholen. "Da stand die Frau Herta mit ihren über 80 Jahren immer noch selber in der Küche. Ob sie nicht noch einen letzten Blick auf die Fassade werfen wolle, bevor wir die Buchstaben abmontieren?", erzählt Eckel. Doch Frau Herta, ihr Lebtag nie eine Perle der Sentimentalität: "Na. Duat drüm steht die Laata, tuats as weg."

Die Schriftzüge sind nicht nur Zeugnisse der Lokalitäten, die sie repräsentierten – sondern auch alter Handwerkskunst und deren Entwicklung. "Vor allem wurde Metallblech verarbeitet, aber auch Holz, und später dann verschiedene Kunststoffe", erklärt Hörmann. Das älteste Exponat der Sammlung stammt übrigens aus dem Jahr 1904 von der Fassade eines aufgelassenen medizinischen Instituts, das jüngste ist ein Schriftzug der gescheiterten Drogeriemarktkette Schlecker. "Zugegeben, der ist nicht besonders schön, aber halt auch ein Teil der Wiener Geschichte!" Und das neueste Schild wird in Kürze im trockenen Kellerlager Einzug halten. Ecker: "Wir haben soeben die Zusage erhalten, dass wir die alten Fassadenschriften des ehemaligen Künstlerhaus-Kinos (jetzt Stadtkino im Künstlerhaus, Anm.) bekommen, das ist wunderbar!"

Feuermauer gesucht

Was fehlt, ist die nächste Mauerschau. Momentan sind Ecker und Hörmann auf der Suche nach einer Feuermauer, an der sie die Schriften für das nächste große Thema anbringen können: die großen Wiener Handelsnamen, wie Slama oder Osei. Für die Umsetzung braucht es die Einwilligung der Besitzer des betreffenden Hauses und des an die Mauer grenzenden Grundstücks. Die Montage erfolgt schonend, der Mauer tut’s also nicht weh. "Es wäre ein Herzensprojekt, diese Schriften, die so vielen Wienern und Wienerinnen zutiefst vertraut sind, wieder ins Stadtbild zurückzubringen", sagt Eckel. "Aber am wichtigsten wäre, wenn alle – Geschäftsleute, Hausbesitzer, Bauherren und natürlich die Stadt – in Zukunft einfach sorgfältiger und verantwortungsvoller mit diesem Kulturgut umgehen würden." (Gini Brenner, 31.7.2020)