Horcht in den 1930er-Jahren Tonlagen einer "aufgereizten" Zeit in Wien ab: Maria Lazar.

Foto: Ullstein Bild / Trude Fleischman

Der auf dem Cover des Buches einherschreitende Mann wird vom aufsteigenden Rauch seiner Zigarette in zwei Hälften gespalten – ein subtiles Bild der Zerrissenheit. Es steht Maria Lazars Roman Leben verboten! wie ein Menetekel voran (Umschlaggestaltung: Gianluca Coscarelli) und erinnert sofort an den tragischen Yuppie Don Draper aus der populären HBO-Serie Mad Men: Belastete Männerseele taumelt in ein abgründiges Abenteuer.

Leben verboten! ist im Jahr 1931 angesiedelt, die Weltwirtschaftskrise hat Unternehmen hinweggerafft und sich in Biografien eingelagert. Auch Ernst von Ufermanns Firma braucht dringend neue Kredite. Für diese muss der Berliner Bankier, etwa 35 Jahre alt, nach Frankfurt fliegen. Flugzeuge heißen da noch würdevoll Aeroplane.

Und Autoreifen bezeichnet Maria Lazar nobel als Pneus. Die später ins schwedische Exil abgedrängte österreichische Autorin (1895–1948) erschafft zu Beginn des Romans durch nüchterne Beschreibungen der Großstadt eine Film-noir-Atmosphäre, in der der nasse Asphalt auch beim Lesen unheilvoll zu schimmern beginnt.

Ernst von Ufermann wird, da ihm das Ticket kurz vor Abflug entwendet wird, das Flugzeug nämlich gar nicht besteigen. Er wird stattdessen ein wenig planlos durch die Stadt driften – bis ihn die Nachricht vom Flugzeugabsturz ereilt. Was tun?

Entlastung vom Leben

Lieber einmal nichts tun. Lieber diesen Moment der enormen Entlastung vom eigenen Leben nützen, die gewonnene Freiheit der offiziellen Nichtexistenz spüren. Lazar rollt in den ersten Stunden dieses auf einige Handlungsmonate ausgedehnten Romans das Psychogramm eines wohlsituierten Menschen auf, der eine Villa mit Personal bewohnt, der in Wahrheit aber von allem überfordert und tief unglücklich ist und dessen Depression und Angst nur von äußerlicher Sicherheit gestützt werden.

Mit der Ablebensversicherung wären Gattin wie Firma nun aber fein raus. Die Dringlichkeit, über seinen nur vermeintlichen Tod aufzuklären, schwindet. Zumal sich der Protagonist auch bald in die Lage versetzt sieht, unter fremder Identität – der ihm übergebene Pass trägt den Namen Edwin von Schmitz – ein kleines Päckchen über die Grenze nach Wien zu schmuggeln. Er taucht ab, will aber wiederkehren.

Dieser nun im Wiener DVB-Verlag (Das vergessene Buch) erstmals auf Deutsch erschienene Roman aus dem Jahr 1932 spürt über die ausgedehnte und schließlich überraschend zu Ende gehende Innenschau dieses Mannes einer schleichend manifest werdenden Zeit des Umbruchs nach.

Denn in den mysteriösen Auftraggebern von Ufermanns Päckchentransaktion und in dem Empfängernetzwerk um die Brüder Wehrzahl (vormals Wrzal) in Wien skizziert Lazar bereits das erwachende Personal der umsturzwilligen Deutschnationalen, schlagende Burschenschafter "mit Verbindung ins Ministerium".

Identitäts- und Politthriller

Jedem einzelnen in diesem schillernden Wiener (und Berliner) Figurenpanorama malt die Autorin hier schon den künftigen Platz in einem auf Verderben ausgerichteten System aus. Maria Lazar, vom Verlagswesen ihrer Zeit und auch danach nachhaltig ignoriert, liefert im innersten Kern dieses Identitäts- wie Politthrillers – bereits vier Jahre vor ihrer Gesellschaftssatire Die Eingeborenen von Maria Blut – eine scharfsichtige Diagnose über das Heraufdämmern des Nationalsozialismus.

In diesem grandiosen Krimi um den anfangs unbedarften Großbürger Ernst von Ufermann, der zunehmend zum klarsichtigen Klassenkämpfer wird, schlagen die Zeichen der Zeit ihre Funken.

Selten beutelt einen das Motiv des Wiedergängers so durch wie in dieser vertrackten wie klugen und von gut recherchierter Kolportage aufgeladenen Geschichte eines unvorbereitet zum Perspektivwechsel gezwungenen Mannes.

Brillante Arrangeurin

Maria Lazar, "Leben verboten!". 26,– Euro / 383 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2020
Cover: dvb-Verlag

Lazar erweist sich dabei als brillante Arrangeurin eines Gesellschaftspanoptikums, in dem das Wien der Zwischenkriegszeit mit sämtlichen Typen und Sprachen ineinander ragt: Sektionschefs und verarmte Baroninnen, ahnungslose Hofräte, arme Hutmacher, abgestürzte Industrielle und naive Professoren am Semmering, intellektuell verkannte Hausmädchen, träumerische Pärchen, machtlose Strizzis und brutale Jungnazis.

Die selbst aus einer großbürgerlichen Familie stammende Schriftstellerin hat die Tonlagen und Irrtümer dieser "aufgereizten" Zeit den Salons ihrer Heimatstadt abgehorcht. Und sie beherrschte dafür auch das legendäre Wiener Idiom: Gestern war er "drahn, mit seinem neuesten Pupperl". Noch hallt in diesem Roman die Welt von Arthur Schnitzler und Sigmund Freud nach und doch ist hier alles noch fragiler geworden – und moderner. (Margarete Affenzeller, 22.8.2020)