"Ich versuche, Geschichten zu finden, die Einheimische nicht kennen", sagt Fremdenführer Stefan Riedl.

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Wollen Sie die wahre Erklärung – oder lieber die lustige? Mit dieser Frage holt Fremdenführer Stefan Riedl seine Zuhörer in die Geschichte des Wiener Stephansdoms und erzählt, warum ein Turm des gotischen Bauwerks kleiner ist als der andere. Je nach Version spielt der Teufel eine Rolle – oder das fehlende Geld.

Letzteres peinigt derzeit die ganze Branche der Fremdenführer. Während des Corona-Shutdowns bis Mitte Mai brach das Geschäft vollkommen weg. Städtetouristen ist die Reiselust vergangen – sofern sie überhaupt nach Österreich kommen dürfen. Das belastet das Geschäft nach wie vor, obwohl Führungen wieder beinahe uneingeschränkt möglich wären.

Der Einbruch gilt gerade für Wien, leben die Tourismusbetriebe in der Hauptstadt doch zu 80 Prozent von ausländischen Gästen. Die Nächtigungen in der Hauptstadt gingen im heurigen Juli um 73 Prozent zurück. Das ist fast schon so etwas wie ein positiver Trend: Im Juni betrug das Minus noch 90 Prozent.

"Das war schon arg", sagt Stefan Riedl. Sein Berufsumstieg zum Fremdenführer war vom Timing her ungünstig. Zwei Jahre lang absolvierte der studierte Historiker abends neben seinem Bürojob die Ausbildung zum Fremdenführer. Ausgerechnet im Jänner kündigte Riedl dann endgültig, um voller Zuversicht in seine erste Saison zu starten.

Fremdsprachige Guides in Not

Ursprünglich war er fast durchgehend von großen Reisegruppen gebucht. Doch Corona-bedingt kam bislang nur eine Gruppe aus Frankreich im Juli. Alle anderen haben abgesagt. Zum Glück hat er als Museumsguide ein zweites Standbein, sagt Riedl. Andere Fremdenführer sind noch härter getroffen.

Als eine Stornierung die nächste jagte, war vielen in der Branche bereits im Frühling klar, dass dieses Jahr gelaufen ist. Als Erstes traf es die chinesischen Reiseleiter und Fremdenführer, sagt Christa Bauer, Präsidentin des Vereins der geprüften Wiener Fremdenführer. Fremdsprachige Guides sind am häufigsten hauptberuflich in dem Gewerbe tätig. Von den 800 aktiven Wiener Fremdenführern arbeitet laut Wirtschaftskammer normalerweise die Hälfte Vollzeit. Bauer schätzt, dass von den gut 500 Mitgliedern im Verein zwei Drittel hauptberuflich Gäste durch Wien führen.

Doch die Not macht erfinderisch. Im Verein setzt man verstärkt auf Themenführungen, die Einheimischen neue und spannende Blicke auf Wien ermöglichen sollen. Spezielle Kinderführungen ergänzen das Angebot. Auch neu: Manch fremdsprachiger Guide führt zum Beispiel statt spanischer Gäste nun Österreicher, die Spanisch lernen wollen, auf eine Reise durch die Kulturgeschichte der Hauptstadt.

Auf Hilfspakete angewiesen

Stefan Riedl hat die Zeit ebenfalls genutzt. "Es war eine Chance, neue Themenführungen vorzubereiten und meine Website zu machen." Nun führt Riedl abends kleine Gruppen zu gruseligen Orten Wiens, wo er von unfreiwilligen Zombies, habsburgischen Geisterbeschwörungen oder Hexen erzählt. Auf der Europatour lernen Interessierte, an welchen Schauplätzen Wiens kontinentale Geschichte geschrieben wurde. Bei einer Musikführung lässt der Guide seine Gäste ortsspezifische Kompositionen erraten. "Ich versuche, Geschichten zu finden, die Einheimische nicht kennen." Seither konnte der Fremdenführer seine Ausfälle ein Stück weit kompensieren.

Den fehlenden Tourismus könne man durch neue Angebote allerdings nur zu einem kleinen Teil ersetzen, sagt Gerti Schmidt, Obfrau der Fachgruppe Wien der Freizeit- und Sportbetriebe in der Wirtschaftskammer. Viele Fremdenführer sind daher auf Staatshilfe angewiesen. Der Härtefallfonds der Regierung funktioniere für einen überwiegenden Teil der Guides – natürlich individuell unterschiedlich – sehr gut, sagt Schmidt.

Auch Vereinspräsidentin Christa Bauer berichtet, dass die erste Tranche der Hilfsgelder unbürokratisch ausgezahlt wurde. Durch die Kontrollen dauere es nun etwas länger, aber ihrer Erfahrung nach fließt nach einer Woche das Geld. Bis Jahresende läuft die Unterstützung für Selbstständige, die man von Monat zu Monat flexibel abrufen kann. Wer Aufträge hat, kann sein ruhendes Gewerbe wieder aktivieren. Aber ab wann sich das auszahlt, ist unterschiedlich. "Es wäre vermessen, zu erwarten, dass einen der Staat zu einhundert Prozent auffängt", sagt Bauer.

Flexibles Geschäftsmodell

Die Zukunft ist ungewiss, viele Fremdenführer müssen sich zumindest vorübergehend nach Alternativen umschauen, berichten mehrere Fremdenführer. Eine Kollegin arbeite einstweilen in einem Blumengeschäft, ein anderer hat den Hut komplett draufgeschmissen.

Die Fremdenführer haben innerhalb der Tourismuswirtschaft aber auch Vorteile in der jetzigen Situation: "Wir sind flexibel", sagt Bauer, "unser Kapital ist Wissen, wir tragen es immer im Kopf." Wer Personal, Geschäftsmiete und Lagerbestände hat, stehe vor größeren Herausforderungen. Als Fremdenführer könne man von heute auf morgen wieder voll loslegen.

Stefan Riedl hofft, dass der Neustart mit mehr Qualitätstourismus und weniger Massenabfertigung verbunden ist. Immerhin gibt es nun viele Spezialangebote. Neue Ideen während der Corona-Lücke auszuprobieren habe die Begeisterung für den Beruf wiederbelebt, sagt Riedl. Aber er freut sich schon auf eine Rückkehr der Gäste. "Ich quatsche einfach gerne."

Der Fremdenführer Stefan Riedl musste wegen der Corona-Krise sein Programm umstellen. Nun führt er auch Einheimische durch Wien. (Leopold Stefan, 6.9.2020)