Der "Wien-Effekt" betrifft die gesamte österreichische Innenpolitik.

Foto: Christian Fischer

Wien ist anders – das ist zwar ein Klischee, aber zumindest politisch ist daran etwas Wahres. In keinem Bundesland sind linke Parteien (in Summe) so stark wie in Wien. Bei der Nationalratswahl 2019 etwa erreichten linke Parteien (SPÖ, Grüne, Jetzt, KPÖ, Wandel, SLP) in Wien zusammen 52 Prozent der Stimmen, im Rest Österreichs nur 35 Prozent.

Das allein überrascht natürlich niemanden – schließlich gehört der Antagonismus zwischen dem "Roten Wien" (heute mischt sich da auch viel Grün hinein) und den konservativeren Bundesländern seit über hundert Jahren zum Konfliktinventar der Republik.

Die bevorstehende Landtags- und Gemeinderatswahl in der Bundeshauptstadt ist aber ein guter Anlass, tiefer zu graben: Was erklärt, warum Wien politisch anders tickt? Sind es Unterschiede in der Struktur der Wählerschaft, haben die Leute andere soziale Bindungen, oder überwiegen andere Einstellungen als in den acht anderen Bundesländern?

Um diese Fragen zu beantworten, kann man Umfragedaten heranziehen, die viele Merkmale der Befragten enthalten. Wenn eine Gruppe, die besonders zur Wahl linker Parteien neigt (etwa Gewerkschaftsmitglieder oder Personen, die sehr für Umverteilung sind), in Wien stärker vertreten ist, dann sollte nach statistischer Kontrolle für dieses Gruppenmerkmal der "Wien-Effekt" im Wahlverhalten abnehmen.

Mit den Daten des European Social Survey 2018/19 bilde ich daher vier Gruppen von Erklärungsfaktoren:

  • Sozialstruktur: Alter, Geschlecht, Beruf, Bildung, Einkommen (subjektiv), Migrationshintergrund
  • Soziale Bindungen: Kirchgang (nur Katholiken), Gewerkschaftsmitgliedschaft
  • Einstellungen: zu Zuwanderung, Umverteilung, Homosexuellen und Europäischer Integration
  • Zufriedenheit mit der Regierung (Türkis-Blau zum Umfragezeitpunkt)

Die Grafik unten zeigt den "Wien-Effekt" – also den Prozentpunkte-Unterschied in der Wahrscheinlichkeit, eine linke Partei zu wählen – in fünf verschiedenen statistischen Modellen. Das erste Modell enthält nur den "Wien-Effekt": Ohne Kontrolle für irgendwelche anderen Charakteristika haben Wiener Befragte gegenüber anderen Befragten eine um 23 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, eine linke Partei zu wählen (abgefragt wurde die letzte Nationalratswahl, das war zum Zeitpunkt der Umfrage jene von 2017).

Die zweite Säule in der Grafik zeigt uns, dass nach Kontrolle für sozialstrukturelle Merkmale der "Wien-Effekt" von 23 auf 15 Punkte sinkt. Rund ein Drittel der Differenz zwischen Wien und dem Rest Österreichs kann also durch Unterschiede in der Sozialstruktur der Wählerschaft erklärt werden.

Die sozialen Bindungen (Kirchgang, Gewerkschaftsmitgliedschaft) haben wenig zusätzliche Erklärungskraft: Der "Wien-Effekt" sinkt im dritten Modell nur ein wenig auf 14 Punkte. Das heißt allerdings nicht, dass diese Faktoren unwichtig wären – im Gegenteil. Ein Modell mit nur diesen beiden Bindungsvariablen (ohne Sozialstruktur) würde zu ähnlichen Reduktionen gegenüber dem Nullmodell führen wie das reine Sozialstrukturmodell. Aber natürlich korrelieren diese zwei Variablengruppen stark miteinander (Gewerkschaftsmitgliedschaft hängt etwa stark mit Alter, Geschlecht, Bildung und Beruf zusammen, Ähnliches gilt für den Kirchgang). Wenn man also sozialstrukturelle Faktoren berücksichtigt, tragen soziale Bindungen nicht mehr besonders viel zusätzlich zur Erklärung der "Wien-Effekts" bei.

Eine deutliche weitere Reduktion bringt aber das Hinzufügen von Einstellungen in das statistische Modell. Der "Wien-Effekt" halbiert sich dadurch beinah, er sinkt von 14 auf acht Punkte. Selbst nach Kontrolle für Unterschiede in Sozialstruktur und sozialen Bindungen sind also große Einstellungsunterschiede zwischen Wien und den anderen Bundesländern vorhanden, die erklären können, warum Wiener linker wählen.

Zu guter Letzt wird noch die Zufriedenheit mit der (damaligen) türkis-blauen Bundesregierung ins Modell eingeführt – und siehe da, der "Wien-Effekt" ist verschwunden (alle Effekte bis auf den letzten in der Grafik dargestellten sind statistisch signifikant). Allerdings muss man hier einschränkend feststellen, dass diese Variable zwar statistisch wirkmächtig ist, substanziell jedoch wenig erhellend wirkt: Man "erklärt" die Wahl linker Parteien mit der Ablehnung einer Regierung aus rechten Parteien – eine analytische Tautologie.

In der Substanz bleibt, dass der größere Teil des "Wien-Effekts" bei der Wahl linker Parteien durch sozialstrukturelle, Bindungs- und Einstellungsvariablen erklärbar ist. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass in der Bundeshauptstadt über diese umfangreichen Batterien an Merkmalen hinaus eine unterdurchschnittliche Affinität zu ÖVP und FPÖ besteht. Wien ist also tatsächlich politisch anders – und das sogar über die (zumindest an dieser Stelle) statistisch fassbaren Unterschiede in der Wählerschaft hinaus. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 7.9.2020)