Die Wahl, an einem schönen Tag im September, verlief ohne Zwischenfälle." Isabel Allendes harmloser Satz aus Das Geisterhaus macht den nachfolgenden Schock, den die siegesgewisse chilenische Rechte erlebt, als sie das Ergebnis der Wahlen vom 4. September 1973 nach Mitternacht erfährt, umso stärker nachvollziehbar.

Salvador Allende von der Unidad Popular, dem Bündnis linker Parteien, gewinnt an diesem Tag mit 36,22 Prozent knapp vor seinem rechten Gegenkandidaten und Vertreter der Oligarchie. Weiter dahinter liegt der fortschrittliche Kandidat der Christdemokraten. Während der Siegesrausch der Rechten sich innerhalb von Stunden in Panik verwandelt, brechen die Anhänger Allendes in Jubel aus, die von der Bourgeoisie befürchteten Plünderungen in den Reichenvierteln bleiben aus.

Vermutlich erstmals in der Geschichte des Landes hat die arbeitende und besitzlose Bevölkerung neben Studenten und Intellektuellen politisch derart Grund zum Feiern, denn die Versprechungen des künftigen Präsidenten, die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation, der Aufbau einer gerechten und freien Welt oder, in den Worten des Compañero Allende: eine "chilenische Revolution", die "nach Rotwein und gebackenen Empanadas" schmeckt, schienen der Erfüllung nahe.

Seite aus dem Comic "Überlebt! Chile 1973". Unter anderem handelt das Buch von der Filmemacherin und Regimekritikerin Carmen Castillo.
Foto: Foto: Edition Moderne, Zürich

Amerikanische Auftraggeber

Doch längst wurden im Hintergrund Fäden gezogen, die dieses Unternehmen zu Fall bringen sollten: "Dass Allende durch einen Putsch gestürzt" werde, sei "fix", lautete eine Nachricht, die die CIA im Oktober des Jahres nach Santiago telegrafierte. Präsident Richard Nixon und Minister Henry Kissinger sind die Auftraggeber des Komplotts. Die Geheimdokumente sind im Internet abrufbar.

Zwei Comics zeichnen diese Geschichte nach: Die Jahre von Allende von Carlos Reyes/ Rodrigo Elgueta (Zeichnung) und Überlebt! Chile 1973 von Loïc Locatelli Kournwsky (Zeichnung) und Maximilien Le Roy nähern sich ihr aus unterschiedlichen Perspektiven an. Zusammen ergeben sie ein vielschichtiges Bild einer sozialen Revolution nach den Regeln der Demokratie und ihrer systematischen Niederschlagung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.

Der Schwarz-Weiß-Comic Die Jahre von Allende setzt mit einer Vorausblende ein, ebenfalls an einem Herbsttag, im Jahr 1973. Es ist das Nine-Eleven Chiles: Ausländische Jagdflugzeuge bombardieren den Regierungspalast La Moneda, in dem sich Allende aufhält. Entgegen den Aufforderungen der Putschisten tritt der Präsident nicht zurück. Mit einer bewegenden Rede, die im Radio übertragen wird, verteidigt er ein letztes Mal seine rechtmäßig gebildete demokratische Regierung.

Die Jahre von Allende ist eine vielstimmige Chronik der Jahre zwischen Herbst 1970 und Herbst 1973. Geschickt bildet das Duo Reyes/Elgueta ein breites Spektrum an Positionen, Diskussionen und Meinungen ab, in einer Fülle, die elegant orchestriert und niemals überladen wirkt. Es kommen Politiker aller Couleurs zur Sprache, vielfach in Originalzitaten. Virtuos stellt der Comic das Ineinander zweier Bewegungen dar, das sich in der Arena des politischen Kampfs enthüllt.

Lebensmittelknappheit

Während Allende seinen politischen Auftrag mit dem Ziel, die wirtschaftliche Unabhängigkeit seines Landes und die soziale Gerechtigkeit herzustellen, ernst nimmt und die Verstaatlichung von Kupferminen und Banken sowie eine Agrarreform mit Enteignungen in die Wege leitet, erholt sich die Rechte mit Unterstützung der CIA von ihrem Schock.

Es folgen Boykotte aller Art, allen voran ein internationales Kupferembargo, die die Allende-Regierung unter Druck setzen. Der berühmt gewordene Streik der Lkw-Fahrer droht, das Land lahmzulegen. Trotz wirtschaftlicher Missstände und Lebensmittelknappheit hält die Bevölkerung dem Präsidenten die Stange. Doch das Klima heizt sich auf. Mit Regierungsumbildungen und Verhandlungen versucht die Regierung der Unidad Popular, die Angriffe einer sich radikalisierenden Opposition abzufangen.

In den letzten Monaten häufen sich Bombenanschläge und Putschversuche. Während Allende sich an die Rechtsstaatlichkeit hält und einen Bürgerkrieg vermeiden möchte, endet sein Projekt eines sozialistischen Staats auf demokratischer Basis am 11. September 1973, als der faschistische Putsch Augusto Pinochets unter Mithilfe der USA gelingt.

Das räumliche Nebeneinander von Text und Bild, von Hintergrund und Vordergrund, von Detail und Ganzem erlaubt es dem Medium Comic auf einzigartige Weise, die Zeit puzzleartig einzufangen. Die Jahre von Allende gehen weit über die politischen Ereignisse hinaus und rekonstruieren das facettenreiche Panorama einer sozialen Kulturrevolution, in das Zitate aus Film, Musik und Kunst eingebettet sind, die im Anhang erläutert werden. Staatsstreich klingt zu sehr nach Bubenstreich. Der Militärputsch Pinochets und die brutale Verfolgung seiner Gegner bilden den dunklen Hintergrund in dem kolorierten Comic Überlebt! Chile 1973, der jedoch die Figur Allendes mit hereinnimmt.

Loïc Locatelli Kournwsky / Maximilien Le Roy, "Überlebt!Chile 1973". Aus dem Französischen von Christoph Schuler. € 29,80 / 136 Seiten. Edition Moderne, Zürich 2016
Carlos Reyes / Rodrigo Elgueta, "Die Jahre von Allende". Aus dem Spanischen von Lea Hübner. € 24,– / 146 Seiten. Bahoe Books, Wien 2020

In abrupten Zeitsprüngen folgen Le Roy und Kournwsky der Lebensgeschichte der chilenischen Filmemacherin Carmen Castillo. Sie, deren Filme stets auf Spurensuche nach einer durch das Regime ausgelöschten Geschichte sind, kommt selbst aus dem Inneren der Revolution. Als Studentin lernt Castillo die "Bewegung der revolutionären Linken" (MIR) kennen, mitbegründet von Allendes Neffen Andrés Pascal. Später Geschichtsprofessorin und liiert mit Miguel Enríquez, Generalsekretär der MIR, arbeitet sie in der Moneda an der Seite des Präsidenten.

Nach dem Militärputsch agiert die Organisation aus dem Untergrund. Vom ersten Tag der faschistischen Diktatur an werden reihenweise Menschen von Pinochets Geheimpolizei entführt, gefoltert, ermordet. Ein Jahr nach der Zerstörung der chilenischen Demokratie wird Enríquez erschossen. Die schwer verwundete, schwangere Castillo überlebt und wird vom Regime ins Exil abgeschoben.

Maschine des Vergessens

Wiederholt zitiert der Szenarist Le Roy aus dem Dokumentarfilm Calle Santa Fe (2007), in dem Castillo nach dreizehn Jahren Exil ihren ersten Besuch in Chile beschreibt. Neben einer Reflexion der Aktivitäten der Widerstandsgruppe MIR ist auch der Comic eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung.

Einhergehend mit einer Politik des Verschwindenlassens hatte die Diktatur eine Politik des Vergessens betrieben. "Die Diktatur war eine Maschine des Vergessens", lautet einer der wuchtigen Sätze im Comic. Genau dort setzt die ehemalige Miristin Castillo ihren Kampf fort, den dieser Comic grandios und präzise rekonstruiert.

Der Eindruck, den die Lektüren hinterlassen – auf der einen Seite Allendes demokratischer Sozialismus, auf der anderen die skrupellosen Interventionen der CIA und der Militärputsch ihres Vollstreckers Pinochet –, ist unmissverständlich: Hier handelt es sich um einen der spannendsten sozialpolitischen Versuche sowie eines der größten Verbrechen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. (Martin Reiterer, 11.9.2020)