Die schwerkranke Nikola Göttling hofft darauf, ihr Leben mit professioneller Hilfe beenden zu dürfen, ehe sie sich nicht mehr rühren kann: "Es kann sein, dass ich 20 Jahre dahinvegetiere. Das wäre entwürdigend."

Foto: Christian Fischer

Ein verlorener Schlapfen kündigte den Verfall an. Es war vor 14 Jahren, als Nikola Göttling an einem Urlaubsmorgen auf dem Weg zum Frühstückkaufen plötzlich ständig das Schuhwerk vom Fuß fiel. Ein Jahr später ging sie nur mehr am Stock, seit 2016 sitzt sie im Rollstuhl.

Die heute 50-Jährige leidet an multipler Sklerose (MS), einer unheilbaren Entzündung des Nervensystems. Was mit Schüben begann, legt ihren Körper systematisch lahm. Noch gelingen ihr, erkauft mit Schmerzen, Verrichtungen des Alltags, erzählt sie: "Ich kann mich anziehen, mich aus dem Rollstuhl hieven, mir die Windel wechseln." Doch die Krankheit kriecht unweigerlich nach oben, an den Nachmittagen fallen ihr bereits Messer und Gabel aus der Hand. "Wenn ich einmal nur mehr liegen und ins Leere glotzen kann" – Göttling sagt es kühl, ohne sichtbare Emotion –, "dann möchte ich sterben."

Der Wunsch treibt die studierte Neuropsychologin dazu, am Donnerstag den für sie beschwerlichen Weg in die Wiener Innenstadt auf sich zu nehmen. In öffentlicher Verhandlung wird der Verfassungsgerichtshof auch über ihre Zukunft beraten. Die Höchstrichter sollen entscheiden, ob die Paragrafen 77 und 78 des Strafrechts – "Tötung auf Verlangen" und "Mitwirkung am Selbstmord" – der Verfassung widersprechen. Die Bestimmungen verbieten, was anderswo in Europa längst erlaubt ist: Sterbehilfe.

Pflicht zum Leben und Leiden

Die Verbote verletzten vielfach die Europäische Menschenrechtskonvention, argumentiert der vom Wiener Anwalt Wolfram Proksch formulierte Antrag: Der Staat dürfe keine "Pflicht zum Leben und Leiden" vorschreiben und Menschen so einen "würdevollen" Tod versagen. Ziel ist, einen "professionell" begleiteten Suizid zu ermöglichen, Hoffnung macht ein Urteil in Deutschland. Im Frühjahr hat das dortige Verfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt, denn: Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

"Die Richter werden nicht anders können, als uns recht zu geben": Stefan Mezgolits' Augen funkeln kampfeslustig. Der 56-Jährige ist einer der vier Bürger, in deren Namen der österreichische Antrag verhandelt wird. Nichts Geringeres als "Machtmissbrauch" sieht er hinter dem Status quo: "Der Staat entreißt den Menschen die Verfügungsgewalt über das eigene Leben."

Stefan Mezgolits kämpft vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das Verbot der Sterbehilfe: "Der Staat entreißt den Menschen die Verfügungsgewalt über das eigene Leben."
Foto: Gerald John

Mezgolits lebt an einem Ort, der so gar nicht ins Klischee des tristen Pflegeheims passt. Die Anlage könnte in einem Ferienressort stehen, jedes Zimmer verfügt über Zugang ins Freie. Doch Mezgolits hat davon nur die Aussicht, er kann nicht mehr, als den Kopf und mit Mühe den rechten Arm bewegen. Die Finger krümmen sich ein, allein der Zeigefinger ragt nach vorne. Diesen benützt der MS-Patient vor allem, um auf seinem elf Jahre alten Laptop Leserbriefe zu schreiben.

Solange er den Leut' auf die Nerven gehen könne, habe das Leben schon seinen Wert. Doch wenn einmal der Arm aufgebe, sei auch für ihn der Sinn verloren, sagt Mezgolits, sieht sich dabei aber nicht nur als Kämpfer fürs eigene Interesse: "Mir geht es um all jene, die sich vor den Zug werfen, obwohl sie noch einige gute Jahre haben könnten."

Tausende Euro fürs Sterben

Das ist ein zentrales Argument der Befürworter: Das Sterbehilfe-Verbot treibe unheilbar Kranke in den Selbstmord, solange sie noch dazu fähig sind – und führe zu vielen gescheiterten Versuchen mit noch mehr Leid als Folge. Wie solle sie sich, einmal ans Bett gefesselt, denn auch umbringen, fragt sich Nikola Göttling: "Ich werde mich nirgendwo runterschmeißen können, und Pistole besitze ich keine."

Derzeit bleibe nur die Möglichkeit, den Ausweg in einem liberaleren Land zu suchen. Göttling hat sich unter anderem beim Schweizer Verein Dignitas erkundigt, der nicht nur die österreichische Klage finanziert, sondern auch assistierten Selbstmord durch ein tödliches Medikament anbietet. Doch abgesehen davon, dass sie dafür viele 1.000 Euro haben müsse, werde sie allein schwer hinkommen. Wer ihr aber hilft, kann sich nach heimischem Recht strafbar machen.

Unwürdige Geschäfte

Geht es nach Thomas Szekeres, dann soll Österreich nicht nachziehen. Schon jetzt biete die Rechtslage Auswege, sagt der Präsident der Ärztekammer: Patienten können lebensverlängernde Behandlungen ablehnen – per Verfügung auch für den Zeitpunkt, wenn sie nicht mehr entscheidungsfähig sind. Ärzte dürfen Schmerzmittel bei Bedarf in einer Dosierung verschreiben, die das Leben verkürzen könnte.

"Unwürdige" Geschäfte, die aus dem Sterben Profit schlagen, erwartet Szekeres im Fall einer Liberalisierung: "Und was, wenn der Kandidat die Erbtant' ist?" Angehörige könnten, wie subtil auch immer, Druck ausüben, den Tod zu wählen: "Ich glaube nicht, dass die Menschen da stets gut sind."

"Ich falle euch doch nur zu Last", habe ihre Oma stets gesagt, erzählt Susanne Kummer. Die Leiterin des kirchennahen Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (Imabe) befürchtet, dass Rechtfertigungsnot für alte und schwerkranke Menschen nicht nur in Familien aufkommen werde. Alsbald werde die Frage auftauchen, ob sich der Staat die wachsenden Ausgaben für sieche Bürger leisten müsse. "Sie glauben gar nicht, wie rasch Solidarität bröckelt", sagt Kummer und blickt nach Kanada: Kaum war Sterbehilfe 2016 legalisiert, habe eine Studie vorgerechnet, wie viele Millionen sich die öffentliche Hand durch Euthanasie ersparen könne.

Die Alternative liest Kummer aus einer Studie in den Niederlanden heraus, wo sogar aktive Sterbehilfe, die den letzten Akt dem Arzt und nicht dem Patienten überlässt, erlaubt ist. Die Umfrage unter Menschen mit Todeswunsch ergab, dass die größten Verstärker Einsamkeit, das Gefühl, zur Last zu fallen, sowie Geldmangel sind. Die Antwort auf diese Probleme könne doch nicht lauten, Betroffene sterben zu lassen, sagt Kummer. Vielmehr brauche es neben optimaler Schmerzversorgung die beste palliative Pflege.

Heimliche Hilfe beim Sterben

Missbrauch lasse sich durch strenge Regeln verhindern, halten Fürsprecher der Sterbehilfe entgegen – etwa mit einer Verpflichtung, Gutachten durch zwei verschiedene Ärzte einzuholen. Der Verein Dignitas heftet sich an die Fahnen, in den Vorgesprächen viel zu investieren, um Anwärter vom Todeswunsch abzubringen: Letztlich hätten sich nur 13 Prozent jener Menschen, die provisorisch "grünes Licht" für den assistierten Suizid bekamen, um einen konkreten Termin bemühen.

Mit einem Ende des Sterbehilfe-Verbots würde entkriminalisiert, was mitunter längst schon geschehe, sagt Marc Henri Hoffmann, ein anderer der vier Antragsteller am Verfassungsgerichtshof. Der Arzt ist überzeugt davon, dass bereits jetzt so mancher Kollege mit der entsprechenden Dosierung eines Medikaments sanft nachhelfe, wenn ein unheilbar kranker Patient – "Bitte helfen S' mir!" – mit dem Leben abgeschlossen habe.

Palliative Methoden stießen bei der Bekämpfung des Leids eben an die Grenzen, sagt Hoffmann. Immer wieder habe er erlebt, wie sich Patienten mangels eines Auswegs Gewalt antun wollten; er erinnere sich noch lebhaft, wie ein Kranker in der Klinik mitsamt der Infusionsflasche von der Galerie gesprungen sei. Die alte Idee, dass ein Arzt Leben ausschließlich zu retten habe, gehöre überdacht, empfiehlt der Mediziner: "Wenn ein Mensch am Ende ist, muss man ihn begleiten."

Nur mehr eine Folter

"Es kann sein, dass ich im Bett noch 20 Jahre dahinvegetiere", sagt die MS-Patientin Göttling. Selbst wenn sie dabei respektvoll gepflegt werde: "Für mich wäre das entwürdigend, nichts als eine physische und psychische Folter."

Als "unbarmherzig" empfindet Göttling, dass ihr manche das Recht aufs Sterben abschlagen wollten. Der Gedanke an den Tod zum rechten Zeitpunkt sei tröstlich, sagt sie: "Ich sehe das Leben als Station. Kaputt ist nur der Körper. Mal schauen, was danach passiert." (Gerald John, 24.9.2020)