An ihnen muss jeder vorbei, der das Rathaus besucht: Gabi Liepold (li.) und Claudia Hackl.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Sagen wir so: Unauffällig ist es nicht, das Wiener Rathaus, auch nicht im internationalen Vergleich. Auf einer Grundstücksfläche von 19.592 m² prangt es, 152 Meter lang, 127 Meter breit, mit seinen 40.000 m² neugotischer Natursteinfassade, seinen vier Seitentürmen und den sieben Innenhöfen.

Der Rathausturm (Rathausmann inklusive!) ist 103 Meter hoch. Der Rathausmann selbst hat 650 Kilo und ist 5,4 Meter hoch, so konnte man immerhin behaupten, wie gefordert mit einer Höhe von "nur" 97,9 Metern sans Rathausmann die 99 Meter hohen Türme der Votivkirche nicht zu überragen. Formsache schlägt Realität, daran scheint sich nichts geändert zu haben, aber gegen manche Regeln muss man sich die richtige Handhabe eben erfinden.

Errichtet wurde das Rathaus von 1872 bis 1883 nach Plänen des Architekten Oberbaurat Friedrich Schmidt, dem 13 Jahre später auf der Rückseite des Rathauses – ja, genau, am Friedrich-Schmidt-Platz – auch ein Denkmal errichtet wurde, das zwischenzeitlich verschwand, als man dort während des Zweiten Weltkriegs in den Gartenanlagen Gemüse anbaute.

Und weil Wien ein Museum von eh allem ist, ist tatsächlich auch die originale Friedrich Schmidt’sche Wohnung erhalten. Das findet man heraus, wenn man die Räumlichkeiten des Amalthea-Verlags im dritten Bezirk besucht und etwas überrascht von dem doch recht gachen innenarchitektonischen Zeitsprung beim Betreten eines vermeintlichen Büros im riesigen Speisesalon samt dunkelbrauner Holzvertäfelung steht, im Vorzimmer Neorokoko galore, barbrüstige vergoldete Sphingen an den Tischen und überhaupt enorm viel laute Historie. Aber das ist nicht die Geschichte, um die es heute geht.

Die geheimen Hüterinnen des Rathauses

Ich besuche nämlich Claudia Hackl und Gabi Liepold. Sie sind auf eine Weise die geheimen Hüterinnen des Rathauses, auch wenn sie das vermutlich selbst so nicht sehen: Sie sind hier Portierinnen. Geöffnet wird das Rathaus von der Rathauswache bereits im Morgengrauen um 5.15 Uhr, so früh kommen vor allem Arbeiter.

Trotz zig Arbeitsjahren im Rathaus – die Feststiege ist für Gabi Liepold nach wie vor beeindruckend.
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Für die beiden Damen beginnt die Frühschicht in der Loge beim Eingang Lichtenfelsgasse um 6.00 Uhr (er öffnet als Erster). Die restlichen Eingänge werden zeitversetzt aufgesperrt. Um 6.20 Uhr wird dann der Paternoster auf der Rückseite Richtung Felderstraße eingeschaltet, mittags haben die beiden zwei Stunden gemeinsam Dienst – Dienstübergabe und Austausch –, dann übernimmt eine von beiden den Nachmittagsdienst.

Frau Hackl und Frau Liepold wissen, wer kommt, wer geht, wer wo arbeitet und, am wichtigsten: wer überhaupt wohin darf. Und sie sind es gewohnt, dass Menschen von anderswo, die hier landen, etwas überrascht sind. Wie, das ist das Rathaus dieser Stadt? Im Ernst? Keine Kirche? Kein Palast? War’s auch nie? "Und ich sag’ dann, das Rathaus war immer Rathaus, es wurde 1883 als Rathaus gebaut, wir haben ja ein noch älteres Rathaus in Wien, in der Wipplingerstraße", sagt Gabi Liepold stolz.

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Blick statt Bäume

Im Geviert zwischen dem gegenüberliegenden Burgtheater, dem Parlament links und der Hauptuniversität rechts ist das Rathaus auch krönender Abschluss des Rathausparks, der gartenbaulich beinah einem höchst wienerischen Architektur-Celebrity-Deathmatch zum Opfer gefallen wäre, das der Vollständigkeit und des Unterhaltungswerts wegen hier auch erzählt werden soll.

Beauftragt mit der Planung des Parks war der legendäre Gartenbauer Rudolph Siebeck (Stadtpark, Schönbornpark, die Alleen der Ringstraße, Schloss Mirabell). Mit seinem Landschaftsgarten entrüstete er sowohl den Uni-Architekten Heinrich Ferstel als auch Theophil Hansen, den Erbauer des Parlaments, die durch die Baumgruppen – kommt Ihnen das bekannt vor? – die Sichtachsen auf ihr jeweiliges Gebäude zerstört sahen.

Was brauchen die Leut’ auch Bäume im Zentrum, noch dazu gruppenweise, wenn sie doch täglich aufs Neue Gebäude anschauen können. Noch 1914 kritisierte Otto Wagner die "alberne Gartenanlage", die den Platz "jeder künstlerischen Wirkung beraubte". So manche eifrig geführte historische Architekturdiskussion ließe sich wohl auch heute noch einfach exhumieren, mit aktuellen Orten, Gebäuden und Namen bestücken, und so schnell würde es niemand merken.

Dass man hier so einfach reinspazieren darf, erstaunt Touristinnen und Touristen.
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Auf dem Areal des späteren Rathausparks war ein Exerzierplatz, warum er im Volksmund "Flegelwiese" hieß, kann man sich denken. Eröffnet wurde der Park trotz der längst vergessenen albernen Streitereien jedenfalls bereits am 14. Juni 1873, dem Tag der Grundsteinlegung des Rathauses.

Und wie geht es im Haus heute so zu? Es herrscht eine wohlwollende Politik des kontrollierten öffentlichen Zugangs. Auf der Rückseite des Rathauses kann man sich mit allen möglichen und durchaus auch unmöglichen Fragen beim Stadtservice Wien an die sehr freundlichen Menschen von der Stadtinformation in der (ja, schon wieder) Friedrich-Schmidt-Halle, der ehemaligen Kutscheneinfahrt, wenden, das Angebot reicht von Handy-Signatur bis zur Wandernadel, von der Anmeldung zur Schuldnerberatung bis zur Fundsachen-Abgabe, hier kann man auch Rathaus-Führungen buchen oder Fahrbahnschäden melden. Das Volk ist in diesem Haus nicht außen vor, auch zahlreiche Veranstaltungen im Arkadenhof sind öffentlich zugänglich.

Das Rathaus geschrumpft

Im Haus selbst arbeiten, quasi unsichtbar in ihren Büros, an die 1.000 Menschen. Wie lange braucht man, bis man sich hier zurechtfindet, mit all den Höfen und den sechs Stiegen? "Etwa ein halbes Jahr. Als ich hergekommen bin, war das Haus riesig für mich. Ich hab mir gedacht, das merke ich mir nie, aber das Haus wird mit der Zeit kleiner, man kennt sich besser aus, weiß, wo die Stiegen sind und wo wer sitzt, damit man niemanden umsonst im Rathaus spazieren schickt", so Claudia Hackl.

Claudia Hackl verwaltet auch die Leihräder im Rathaus.
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Sie steht seit eineinhalb Jahren in der Loge, Kollegin Gabi Liepold bereits das fünfte Jahr. Ist man ehrfürchtig, wenn man in so einem Gebäude arbeitet? Liepold hat zuvor bereits bei der Magistratsabteilung 35 am Friedrich-Schmidt-Platz 3 gearbeitet und das Rathaus aus der Ferne bewundert. Jetzt ist sie hier gelandet. "Wenn jemand fragt, wo man arbeitet, und man sagt ‚im Rathaus!‘, das ist schon etwas Besonderes", so Hackl.

Als Portierinnen wissen sie viel (aber auch nicht alles, betonen sie), und es wird ihnen viel zugetragen. Man lernt enorm viele Leute kennen und ist Vermittlungsstelle. Neben Menschen, die einfach nur wissen wollen, wo sie hinmüssen, gibt es natürlich auch jene, die dringend "einen Termin beim Bürgermeister" brauchen ("die kommt schon das dritte Mal, die kenn’ ich schon.").

Mit denen lernt man umzugehen, auch mit jenen, die selten, aber doch zum Pöbeln herkommen und dann wieder für ein paar Monate verschwinden. Anfangs kennt man die im Haus verkehrende Politprominenz hauptsächlich aus den Medien ("obwohl ich oft sag’, im Fernsehen schaut er anders aus"), später aus dem Arbeitsalltag.

Dass man hier so einfach reinspazieren darf, erstaunt Touristinnen und Touristen. Letztens war eine Stadtstempel sammelnde Rucksacktouristin da, mit der hat man dann auch Zeit, ins Gespräch zu kommen. Buchbinderin will sie werden, erinnert sich Claudia Hackl. So steht man zwar selbst an einem Ort, aber die halbe Welt kommt auf Besuch.

Tag- und Nachtwache

Zu den Aufgaben der beiden Damen gehört auch das Plakatieren von Veranstaltungen, um auch Außerhäusigen die Orientierung zu ermöglichen ("damit die Leute wissen, wie sie gehen sollen. Sie kommen eh trotzdem fragen"), sowie die Vergabe der Leiter und von Diensträdern, ja, die gibt es, wie sympathisch.

Im Rathaus gibt’s unzählige Türen – aber keinen Generalschlüssel, der alle öffnet.
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Für lange Rundgänge durchs Haus bleibt angesichts der Größe des Rathauses keine Zeit, "das dergehst zu zweit nicht", zum Glück übernimmt im Falle des Rathauses die Rathauswache einige Portiersaufgaben. Sie gehört offiziell zur Feuerwehr, übernimmt aber auch Brandschutz und Kontrollgänge. Sie bewacht den Bürgermeister und steht uniformiert und raybanisiert vorm Rathaus herum.

Die Geschichte der Rathauswache ist ebenfalls bemerkenswert. Gegründet wurde sie 1927 als Reaktion auf den Brand des Justizpalastes, man war mit leichten Waffen ausgestattet, ja, "Feuer löschen", alles klar. Noch heute erzählt man, dass die Rathauswache am 12. März 1938 das Rathaus möglichst lange verteidigte (sie wurde nach dem Anschluss neu besetzt und zur NS-Rathauswache, 1945 dann neu gegründet).

Die Biografien der im Rathaus nach 1938 statt des 1934 aufgelösten Gemeinderats eingesetzten Scheinvertretung, der NS-Ratsherren, sind übrigens im Wien-Geschichte-Wiki wie auch im Politarchiv Polar nachzulesen. Auch die im Haus befindliche Wienbibliothek betreibt NS-Provenienzforschung.

Wie wird man eigentlich Portierin?

Wie wird man eigentlich Portierin? Ist das so ein langwieriger Prozess wie bei Londoner TaxlerInnen, die erst die ganze Stadtkarte auswendig lernen müssen? Nein, man beginnt üblicherweise in einer anderen Funktion in der Abteilung. Gabi Liepold hat ursprünglich bei der MA 34 begonnen, "als Reinigungskraft. Man hat damals einen Pool gegründet aus Springer-Portierinnen für Urlaubs- und Krankenstandsvertretungen, da bin ich gefragt worden."

Portiere werden also nicht von extern, sondern aus dem Eigenpersonal besetzt, tatsächlich oft mit dem Ziel Vollbeschäftigung und auch wegen der internen Aufstiegsmöglichkeiten.

Welche Eigenschaften braucht man als Portierin? Definitiv eine gute Beobachtungsgabe, soviel steht fest, leutscheu darf man auch nicht sein. Ruhig muss man bleiben können, und gerade anfangs findet man die wichtigen Infos umso schneller heraus, je weniger man sich von Menschen, die zu wichtigen Terminen zu spät dran sind, stressen lässt. Für alles andere gibt es Schulungen.

Was sind die ersten Schreckmomente? Wenn man jemanden falsch durchs Haus schickt. Gar jemand Wichtigen. Weil zwei Stadträte mit Vornamen Peter heißen und mit Nachnamen fast ident. Und nein, die beiden Damen haben keinen Schlüssel für eh alles, erstens gibt es keinen Generalschlüssel, "und wenn, dann nicht bei uns".

Ein Schreckmoment: "Wenn man jemanden falsch durchs Haus schickt."
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Fürs Aufsperren ist die Rathauswache zuständig. So kommt man also nicht aufs Dach – aber, dem Paternoster-Technik-Kammerl sei’s gedankt, in den Keller. Dort ist es erstaunlich heiß, wie in einem Maschinenraum, und am Boden gibt es noch Schienen, hier fuhren einst die Kohlewagerln für die Beheizung.

Und ja, wie in allen anderen Teilen des Gebäudes läuft auch dort alle fünf Meter jemand vorbei, der die Damen namentlich begrüßt. Noch dazu, weil ein Fotograf dabei ist. "Sind Sie eine Berühmtheit?", fragt jemand im Vorübergehen. "Ja, kennen Sie mich nicht?", lacht Frau Liepold zurück.

Präsidiale Stiege

Gibt es Orte, die nach all der Zeit hier noch begeistern? "Der Balkon vom Festsaal", sagt Liepold. "Und wenn man die Feststiege raufgeht, denkt man schon, wer hier aller über roten Teppich gegangen ist."

Auf die Präsidialstiege dürfen nur wenige, sie führt zum Bürgermeisterbüro.
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Das ultimative Hoheitsgebiet ist allerdings rein von der Bedeutung her die Präsidialstiege, die führt zum Bürgermeisterbüro, nicht zum Präsidenten, aber das klingt halt nicht so elegant. Hier dürfen dezidiert nicht alle rein. Und wer rein darf – die, die dort arbeiten – und, genauso wichtig, wer nicht, muss auch erst gelernt werden.

Leute von außen werden nach Rücksprache abgeholt, manche müssen doch ab und zu die Fünferstiege nehmen, "ah, heute nicht?" heißt es dann. Hat man eine realistische Chance auf einen Termin beim Bürgermeister? "Völlig unmöglich ist es nicht", erklärt Liepold. Derweil steigt er hinter uns in den neuen Dienstwagen seit Corona, einen VW-Bus, Abstand halten, ehschowissen.

Im Rathaus arbeiten ist wie in einer Monarchie arbeiten, man muss die Spielregeln dieses hochkomplexen Konstrukts von ausgesprochenen und unausgesprochenen Hierarchien erst lernen, von außen sind sie manchmal etwas rätselhaft, hat mir mal jemand erzählen.

Stimmt das so? Plötzlich steht lautes Schweigen im Raum. Meine ich das Rathaus konkret oder den Magistrat Wien allgemein? Und wer nochmal hat mir das gesagt? Frau Liepold beschwichtigt. "Es ist nett ausgedrückt mit der Monarchie, aber es ist im Grunde genommen auch nicht viel anders als in der Privatwirtschaft." Um hinzuzufügen: "Aber eben doch anders, weil es eben der Magistrat ist." Ein paar Geheimnisse behält das Rathaus also durchaus für sich. Aber eines immerhin hab ich gelöst. Ab wann sagt man hier "Mahlzeit"? "Ab dem Moment, wo man Hunger hat." (Julia Pühringer, Magazin "Leben in Wien", 6.10.2020)