Die gebürtige Wienerin Ruth Klüger starb im Alter von 88 Jahren in Kalifornien.

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Als sie im Frühjahr 2015 im Interview mit der Literaturjournalistin Iris Radisch gefragt wurde, ob sie in ihrem Leben etwas bereue, sagte sie: dass sie in den USA, nicht in Israel gelandet sei. Ob es ihr in dem Staat, den es damals noch nicht gab, anfangs besser gegangen wäre als in New York, wo sie nach ihrer Ankunft im Jahr 1947 Depressionen und Suizidgedanken plagten, die Folgen des schweren Traumas?

Das war eine Frage, die Ruth Klüger niemals mit dem Satz "Es hat nicht sollen sein" kommentiert hätte. Sie war überzeugt, dass das meiste im Leben Zufall war, auch das Überleben, damals in der Selektion im KZ, als sie auf jene Frau traf, die ihr riet, sich als drei Jahre älter auszugeben. Die Gleichaltrigen im Lager, sie kannte sie gut, wurden alle ermordet. Bis zuletzt wird sie die Gesichter dieser Kinder vor Augen haben. "Ich fühle mich nicht schuldig", sagte sie im selben Interview, "aber es ist ein metaphysisches Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht überlebt." Nun ist Ruth Klüger im Alter von 88 Jahren in Kalifornien gestorben.

Machtübernahme der Nazis

Klüger wurde 1931 in Wien als Tochter eines Frauenarztes und einer in zweiter Ehe verheirateten Frau aus einer Industriellenfamilie geboren. Sie ging gerade in die erste Klasse Volksschule, als die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernahmen. Im ersten Teil ihrer Autobiografie, dem 1992 erschienenen Bestseller "weiter leben – Eine Jugend" schrieb sie: "Die Kinder, die in Wien geblieben waren, trugen immer ärmlichere Kleidung" – flüchten zu können war schon immer eine Frage des Geldes.

In der Familie Klüger war es der Vater, der im Sommer 1938 über Italien nach Frankreich floh. Frau und Tochter sollten nachkommen, sobald sie die "Reichsfluchtsteuer" aufbringen konnten. Dazu kam es nie, die flächendeckende Enteignung der Juden hatte auch ihr letztes Hab und Gut erfasst. "Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang", schrieb sie.

Flucht vor der Befreiung

Ihren Vater, der 1944 in Nizza verhaftet und ins Sonderlager Drancy verschleppt wurde, sollte sie, wie auch ihren Halbbruder Schorschi, nie wiedersehen. Sie selbst wurde 1942 mit der Mutter ins KZ Theresienstadt deportiert, später nach Auschwitz und Groß-Rosen. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen gelang ihr kurz vor der Befreiung die Flucht.

Das Buch "weiter leben" ist einem tragischen Zufall zu verdanken. Klüger, die Deutschland und Österreich jahrzehntelang gemieden hatte, kam 1988 nach Göttingen, um dort zwei Jahre lang das kalifornische Studienzentrum zu leiten.

Bei einem Unfall stieß sie ein Radfahrer nieder, sie trug eine schwere Schädelverletzung davon, schwebte zwischen Leben und Tod. Danach kehrten die Bilder des Grauens zurück. Schon als Kind im Lager Theresienstadt hatte sie begonnen, die Folter durchs Dichten zu verarbeiten, nun versuchte sie erneut, die Dämonen im Kopf im Schreiben auszutreiben.

"Schrecklich feministisch"

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki feierte das Buch, es wurde ein Sensationserfolg. Später verriet Klüger, dass er, der Chefrezensent der deutschsprachigen Literatur, sich über die "schrecklichen feministischen Anflüge" im Text beklagt hatte. Er schien nicht verstanden zu haben, dass es auch der Frauenbewegung zu verdanken war, dass dieses von ihm so geschätzte Buch in die Welt kam. "Die Kriege gehören den Männern, daher auch die Kriegserinnerungen", heißt es im ersten Kapitel. Klüger wollte dieser Dominanz mit ihrer Stimme trotzen.

Und es war nicht nur die Stimme einer Frau, sondern auch die des Kindes, das sie damals war, aber nicht sein durfte. Ihrer in der Gaskammer ermordeten Tante widmet sie keine Worte des trauernden Gedenkens, sondern des kindlichen Hasses: "Die Tante bleibt für mich der Mensch, der (…) morgens in der Dunkelheit auf der einsamen Fresserei am Küchentisch bestand, die man Frühstück nannte."

Heller Verstand

Sie erzählte vom Unterwegssein auf den Straßen Wiens, am ersten Tag nach der Einführung des Judenstern-Zwangs, als eine wildfremde, ebenfalls jüdische Frau der Mutter zuflüsterte: "Er passt zu Ihrer Bluse." Ruth, damals neun Jahre alt, hat das "mutig und witzig" gefunden.

Sie gestand, den heutigen Wiener Kindern gegenüber "unvernünftige Ressentiments" zu empfinden, weil sie im Prater herumtollen und Museen besuchen dürften, dass die Nachkommen der damaligen Täter heute Freiheiten genießen, die ihr als Mädchen nur deshalb genommen wurden, weil sie Jüdin war. Diese Ehrlichkeit, dieser helle Verstand, der die unbehaglichen Widersprüchlichkeiten ausleuchtete, verbunden mit der seltenen Gabe, dafür die passenden sprachlichen Nuancen zu finden – das alles machte Klügers Werk außerordentlich, in Prosa und Lyrik.

Wer Klüger aber nur als Autorin sah, blendet den größten Teil ihres Lebens aus. Sie, die Anglistik studierte, weil sie Sprache liebte, sich von allem Deutschen aber auch sprachlich distanzierte, wendete sich mit 31 Jahren doch der Germanistik zu. Mit Publikationen zu Kleist und Lessing machte sie sich einen Namen, wurde zur ersten Germanistikprofessorin in Princeton ernannt, an der University of California in Irvine war sie überhaupt die erste Frau, die einen Lehrstuhl innehatte.

Emotionale Stärkung für den Alltag

Abseits der Wissenschaft klammerte sie das Deutsche weiterhin aus: Ihre beiden Söhne wuchsen einsprachig englisch auf. Auch mit ihrem Mann, von dem sie sich scheiden ließ, weil ihr die Ehe bald zum "Gefängnis" wurde, sprach sie nicht die gemeinsame Muttersprache. Dennoch war auch im Privaten die Sprache ihr Werkzeug, um Gefühle zu offenbaren: Kaum körperliche Nähe hätten sie von der Mutter gespürt, klagten ihre Söhne – doch in der Schule, wenn sie die Jausenschachtel öffneten, fanden sie darin oft ein Zettelchen vor: von Hand geschriebene Limericks, selbstgedichtet von der Mutter. Emotionale Stärkung für die Widrigkeiten im Alltag eines Kindes.

Über die Schwierigkeiten, dem Horror der Shoa auf angemessene Weise zu gedenken, schrieb sie ausführlich im zweiten Teil der Autobiografie, "unterwegs verloren". Nie blieb sie im Subjektiven stecken, sondern abstrahierte aufs Ganze, schenkte den Lesern ihren differenzierten Blick auf komplexe Themen. Die Autobiografie wurde so zum hochpolitischen Text.

Verhasster Sehnsuchtsort

Wien blieb ihr bis zuletzt ein verhasster Sehnsuchtsort. "Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar", schrieb sie. Dass die Stadt Wien 100.000 Exemplare von "weiter leben" gratis verteilen ließ, war ihr im Jahr 2008 eine große Genugtuung, aber keineswegs Wiedergutmachung. Zu präsent sei der Wiener Antisemitismus noch heute, meinte sie.

Selten wurde berührender über Österreichs Tätergeschichte gedichtet als in "Heldenplatz", abgedruckt zuletzt 2013 im Gedichtband "Zerreißproben". Ein Auszug daraus: "Gegen die guten Sitten / verstößt das Gedenken. / Ich bin im Hause des Henkers geboren. / Naturgemäß kehr ich wieder. / In krummen Verstecken / such ich den Strick. / Mir blieb eine Faser davon im Genick. / Meine Hartnäckigkeit war mein Glück." Und das unsere. (Maria Sterkl, 7.10.2020)