Grace Wales Bonner ist Tochter einer Unternehmensberaterin und eines Anwalts mit jamaikanischen Wurzeln.

Foto: Jamie Morgan, Sean and Seng / Wales Bonner

Grace Wales wer? Prominent ist Grace Wales Bonner nicht. Doch wenn in der Branche ihr Name fällt, dann werden die Ohren gespitzt. Die Londonerin gehört zu den Senkrechtstarterinnen der Modeindustrie. Ihre Karriere? Verlief rasant.

Vor sechs Jahren beendete die 29-Jährige ihr Modestudium an der Londoner Hochschule Central Saint Martins. Mit ihrem Label Wales Bonner machte sich die Designerin kurz darauf selbstständig, es folgte eine Auszeichnung nach der anderen. 2015 wurde sie bei den British Fashion Awards zur besten Nachwuchsdesignerin im Männermode-Segment gekürt, ein Jahr später räumte sie den prestigeträchtigen, mit 300.000 Euro dotierten LVMH-Modepreis ab.

Wales Bonner ist in einer vorherrschend weißen Industrie mit ihren smarten, präzise geschnittenen Herrenmode-Kollektionen in ein Vakuum vorgestoßen: Die Tochter einer Unternehmensberaterin und eines Anwalts mit jamaikanischen Wurzeln verhandelt die Identität schwarzer Männer jenseits breitschultriger Rap-Klischees.

Der Anstoß, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen, kam vom Vater. Er versorgte sie mit Büchern, zum Beispiel von dem afrokaribisch-französischen Schriftsteller Aimé Césaire, an der Universität entdeckte Wales Bonner Baudrillard, Fred Moten, Henry Louis Gates.

Trotzdem nicht verkopft

Für ihre Frühjahrskollektion 2021 hat sich Grace Wales Bonner mit jamaikanischer Dancehall-Kultur auseinandergesetzt.
Foto: Jamie Morgan, Sean and Seng / Wales Bonner

Bis heute begleiten Leseempfehlungen, Texte und Soundtracks ihre Kollektionen, sonderlich verkopft wirkt Wales Bonners Mode trotzdem nicht. Im Gegenteil: Sie funktioniert auch kommerziell, für die aktuelle Kollektion arbeitete sie beispielsweise mit dem Sportartikelhersteller Adidas zusammen.

Die Modedesignerin verwebt auf elegante Art und Weise Elemente britischer Kolonialgeschichte mit Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte. Mal inspiriert sie das Krönungsgewand des äthiopischen Herrschers Haile Selassie, ein andermal die jamaikanische Dancehall-Kultur. Weil ihre Mode mehr und mehr Frauen begeistert, entwirft Wales Bonner mittlerweile auch für sie.

Und sie beweist beim Einkleiden von Prominenten ein sicheres Händchen. Popstar FKA Twigs kleidete Wales Bonner in ein mit Swarovski-Steinen und Kaurischnecken (ein früheres Zahlungsmittel in Afrika) besticktes Bühnenkostüm, Herzogin Meghan Markle trug anlässlich des ersten öffentlichen Termins von Sohn Archie ein beigefarbenes Trenchkleid der Londoner Designerin.

Für die breite Öffentlichkeit

Man wundert sich nicht, dass die Modedesignerin am Telefon erklärt: "Ich will mein Label einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen." Auch wenn die Britin ihre Worte im Gespräch mit Bedacht wählt: Ihre Zurückhaltung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie weiß, wo sie hinwill.

Im September hat Grace Wales Bonner ihre Kollektion zum ersten Mal nicht in London, sondern während der Pariser Modewoche gezeigt. Die Modedesignerin ist international präsent, erst ein paar Wochen zuvor widmete das Magazin The New Yorker ihr und ihrem Modelabel ein ausführliches Porträt.

Dass ein Interviewtermin mit ihr rund um das Fashion- Week-Debüt nicht so leicht zu vereinbaren ist, sei ihrem vollgepackten Terminkalender geschuldet, richtet die Pariser PR-Agentur aus. Zwar war die digitale Präsentation wie bei vielen anderen Modeunternehmen nur auf der Website der Fédération de la Haute Couture et de la Mode zu sehen, doch dass in Paris aufgrund der Corona-Pandemie kein konventioneller Laufsteg ausgefahren werden konnte, kommt der Arbeitsweise der Modedesignerin durchaus entgegen.

In ihrer Mode verhandelt die 29-jährige Designerin die Identität schwarzer Männer jenseits breitschultriger Rap-Klischees. Mittlerweile entwirft sie auch für eine weibliche Kundschaft.
Foto: Jamie Morgan, Sean and Seng / Wales Bonner

Mode im Film

Die Britin hat Mode schon immer in unterschiedlichen Formaten gezeigt. Diesmal eben in Form eines Videos und eines Lookbooks. Der fünfeinhalbminütige Film Thinkin Home, eine künstlerisch-meditative Arbeit des Fotografen Jeano Edwards, wurde in der Zeit des Lockdowns auf Jamaika realisiert, den Dreh koordinierte die Modedesignerin in London am Computer.

Auch ihren neuen Job als Professorin an der Modeklasse der Wiener Angewandten nimmt Wales Bonner seit ihrem Antritt Anfang Oktober erst einmal digital wahr. Die acht Modestudenten, die in diesem Herbst neu an der Angewandten begonnen haben, kennen sie wie die älteren Jahrgänge bislang nur aus Gesprächen über Zoom und Skype. Doch Wales Bonner bleibt ja noch Zeit: Nachdem Luke und Lucy Meier von Jil Sander sich nach nur einem Jahr aus Wien verabschiedet hatten, wurde "die Neue" für drei Jahre verpflichtet.

Zwischen den Disziplinen

Ob es ein Vorteil sei, dass sie nicht viel älter als ihre Studenten ist? Die Modeprofessorin winkt ab, das Alter sei nicht entscheidend für ihre Arbeit. Und doch könnte die Designerin, die sich sehr gut an ihre eigenen Anfänge am Central Saint Martins College erinnert ("Ich sehe mich noch im Gebäude an der Charing Cross Road, in der Bibliothek neben den vielen Studenten von überallher, die die Uni angezogen hat"), gerade in Zeiten wie diesen eine gute Wahl sein.

Wales Bonner hat keine Berührungsängste mit digitalen Lehrmethoden, und sie hat ein echtes Interesse an Theorie und Recherche – kaum ein Begriff fällt während des Gesprächs so oft wie "research": "Ich hoffe, meine Studenten dazu animieren zu können, Recherche als Teil der künstlerischen Praxis zu verstehen", erklärt sie.

Wales Bonner, die lange nicht wusste, ob sie Historikerin oder Kreative sein wollte, verband früh die eine mit der anderen Disziplin. 2013 schrieb die Britin neben ihrer Abschlusskollektion eine wissenschaftliche Abhandlung, 10.000 Wörter, Titel "Black on Black", 2019 bewies sie mit einer von Hans Ulrich Obrist initiierten Ausstellung in der Londoner Serpentine Gallery, dass sie in der Modebranche zu den wenigen gehört, die nicht nur über wissenschaftlichen Ehrgeiz, sondern auch über ein ernsthaftes Interesse an der Auseinandersetzung mit anderen künstlerischen Disziplinen verfügt. Wenn sich das nicht auch im Lehrplan der Wiener Modeklasse niederschlagen wird. (Anne Feldkamp, RONDO, 16.11.2020)