"Boris Johnson verstößt gegen alle Regeln" mit Jobangeboten zur BBC: Medienhistorikerin Jean Seaton.

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Jean Seaton über Premier Boris Johnsons Offensiven gegen die BBC. Die 73-Jährige lehrt Mediengeschichte an der Londoner Westminster-Universität und schrieb ein Buch über die BBC in den 1970er- und 1980er-Jahren.

STANDARD: Die BBC hat weltweit hohes Ansehen und bewährt sich für die Briten in der Corona-Pandemie. Warum steckt der Sender in der Krise?

Seaton: Alle öffentlich-rechtlichen Sender haben das Problem, junge Leute bei der Stange zu halten. Die Konkurrenz von Amazon, Netflix und Youtube ist immens. Zum anderen sieht sich die BBC einem heftigen Angriff der Regierung von Premierminister Boris Johnson ausgesetzt.

STANDARD: Boris Johnson brachte zwei erzkonservative BBC-Kritiker für entscheidende Posten ins Spiel: seinen früheren Chef beim "Spectator" Charles Moore als Chairman, dem die Kontrolle des Intendanten unterliegt, und Paul Dacre, früher Leiter des Boulevardblatts "Daily Mail", für die Leitung der Medienbehörde Ofcom, die auch für die BBC zuständig ist.

Seaton: Johnson hat den beiden die Jobs zweifellos angeboten. Das verstößt gegen alle Regeln. Die Regierung hat das letzte Wort, aber Bewerbungen und Auswahl unterliegen strikten Kriterien der Offenheit und Fairness. Davon kann so keine Rede sein. Ich hätte nie gedacht, dass die britische Verfassung einem so harten Test unterzogen würde. Doch ich bin zuversichtlich, dass sie standhalten wird. Denn die BBC untersteht einer königlichen Charta. Chairman und Intendant werden offiziell von der Queen ernannt und unterscheiden sich so von vergleichbaren Positionen. Solche Verfassungsdetails haben enorme Bedeutung.

STANDARD: Moore hat mittlerweile signalisiert, er werde nicht antreten.

Seaton: Der Medienausschuss im Unterhaus kündigte massiven Widerstand an, nicht zuletzt, weil Moore deutlich mehr Geld haben wollte als der derzeitige Chairman. Die Anhörung wäre einer öffentlichen Charakterdemontage gleichgekommen. Das Risiko wollte der Kandidat wohl nicht eingehen.

STANDARD: Im Streit über den BBC-Chairman geriet die Frage der Leitung der Ofcom in den Hintergrund.

Seaton: Paul Dacre die Medienaufsicht führen zu lassen wäre völlig falsch. Ofcom hat mit der digitalen Medienwelt und brandneuer Technik zu tun. Er ist ein Zeitungsmann. Wie er den neuen Presserat unterminiert hat, lässt für die TV-Regulierung wenig Gutes ahnen.

STANDARD: Sie fürchten um die Rundfunkgebühr.

Seaton: Ausländische Medienunternehmer wie Rupert Murdoch wollen seit Jahrzehnten diese britische Bastion schleifen. Zum Glück gibt es im Ausland auch jene, die auf die BBC als Verteidigerin westlicher Werte setzen. In den USA höre ich immer wieder: Im englischsprachigen Raum ist nur die BBC stark genug, russischer und chinesischer Propaganda entgegenzuwirken.

STANDARD: Wie sieht das der neue BBC-Intendant Tim Davie?

Seaton: Er spricht von einer Erneuerung unserer Werte, sieht die BBC als Verkörperung einer universellen Idee, wenn auch natürlich verankert in Großbritannien.

STANDARD: Davie will BBC-Stars wie Sportmoderator Gary Lineker mit neuen Richtlinien an die Kandare nehmen.

Seaton: Es gab zuletzt auf Twitter zu viele prominente Moderatoren, die ihre eigenen Meinungen mitteilten. Aber die Überparteilichkeit gehört nun einmal zur DNA der BBC. Wer sich daran nicht halten kann oder mag, muss sich woanders einen Job suchen. (Sebastian Borger, 30.11.2020)