Das "Tattoo-Top" aus der Frühjahrskollektion 1989 zählt zu den bekanntesten Entwürfen des belgischen Modedesigners Martin Margiela.

Foto: 2019 Reiner Holzemer Film – RTBF – Aminata Productions

Eines vorweg: Das Versteckspiel des Martin Margiela geht weiter. In der Dokumentation Martin Margiela – Mythos der Mode sieht man neunzig Minuten lang immer wieder seine Hände, hört seine Stimme, das war’s aber auch. Das ist allerdings mehr, als der belgische Modedesigner jemals von sich preisgegeben hat.

Es ist ein kleines Wunder, dass es dem deutschen Regisseur Reiner Holzemer überhaupt gelungen ist, Martin Margiela zu einer Dokumentation zu bewegen. Wahrscheinlich ist die Zusage des scheuen Belgiers der einschlägigen Erfahrung des Regisseurs zu verdanken, er hat bereits den Modedesigner Dries Van Noten und den Fotografen Jürgen Teller porträtiert.

Martin Margiela galt bislang als das große Phantom der Modewelt. Statt sich wie seine Kollegen nach Shows dem Publikum zu zeigen, blieb er unsichtbar, Interviews lehnte er ab. Wenn er eine Ausnahme machte und Fragen beantwortete, dann per Fax.

Zeitweise war sogar spekuliert worden, ob hinter seinem Namen eine Frau steckt. Und das, obwohl Margiela zwanzig Jahre Teil der Modeindustrie war, für Hermès arbeitete und 41 Kollektionen für die eigene Marke ablieferte. Das letzte Foto des Designers, ein angeblitztes Porträt, zeigte die New York Times 2008, Titel des Artikels: Fashion’s Invisible Man.

Die Hände des Designers

Dass hinter dem Verschwindenwollen keine Koketterie steckt, glaubt man dem Designer nach Sichten der neunzig Minuten langen Dokumentation sofort. Wenn in einer Einstellung die Hände des Designers an einem Kronkorken herumfummeln und er zu Protokoll gibt "Ich mag die Vorstellung, berühmt zu sein, nicht", meint man sein Unbehagen zu spüren.

Reiner Holzemer bewegte Martin Margiela zu einer Doku.
Foto: 2019 Reiner Holzemer Film – RTBF – Aminata Productions

Letzte Revolution der Mode

Margielas Strategie hat dem Label nicht geschadet, sie hat dessen Mythologisierung befeuert. Davon zeugt die Begeisterung der Weggefährten und Modeexperten, die im Film des deutschen Regisseurs Reiner Holzemer zu Wort kommen. "Margiela steht für die letzte Revolution in der Mode", sagt da etwa die Unternehmerin Carla Sozzani, die Schwester der mittlerweile verstorbenen Chefin der italienischen Vogue.

Die amerikanische Modekritikerin Cathy Horyn zählt ihn zu den Top Ten des vergangenen Modejahrhunderts, und Trendforscherin Li Edelkoort glaubt: "Er wollte nie gefallen, das gefiel uns." Pierre Rougier, der erste Pressesprecher des Labels, ist sich sicher: "Er war seiner Zeit weit voraus."

Dieses Aha-Erlebnis dürfte die Doku auch jener jungen Generation bereiten, die mit zerrissenen Jeans groß geworden ist und den Vetements-Designer Demna Gvasalia als Erfinder des Denim-Patchworks feiert. Martin Margiela hatte all diese Ideen zuvor. Er hat nicht nur Nähte nach außen gedreht und falsche Mottenlöcher im Pullover salonfähig gemacht, er hat der überdrehten Branche Ende der Achtzigerjahre, den Muglers und Montanas, eine Ernsthaftigkeit entgegengesetzt, die viele vermisst hatten.

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Dekonstruierte Mode

Der belgische Designer, 1957 als Sohn eines polnischen Friseurs und einer Belgierin in Genk geboren, dekonstruierte nach Rei Kawakubo die Mode aufs Neue – und das auf analytische Art und Weise.

Dass Margiela ausgerechnet bei Jean Paul Gaultier, jenem extrovertierten Unterhaltungskünstler der Mode, seine Karriere begonnen hat, mag auf den ersten Blick wie eine skurrile Fußnote wirken. Doch jener Gaultier erkannte die Qualitäten seines organisierten Assistenten, Abgänger der Modeuni in Antwerpen, schnell: "Du hast Stil und Geschmack, den solltest du mit Blick auf deine Zukunft pflegen." Martin Margiela befolgte seinen Rat.

Perücke mit Schulterpolster: eine Silhouette aus der Frühjahrskollektion 2009 von Martin Margiela.
Foto: 2019 Reiner Holzemer Film – RTBF – Aminata Productions

1987 gründete er mit seiner Geschäftspartnerin Jenny Meirens das Label Martin Margiela, ein unbeschriftetes Etikett mit vier Stichen wurde zum Signet der Marke. Reiner Holzemer zeichnet die Karriere des eigenwilligen Modedesigners im Rahmen einer klassischen Dokumentation nach.

Und obwohl der Designer neunzig Minuten nahezu unsichtbar bleibt, vermittelt der Film doch eine Vorstellung von jenem Überzeugungstäter, der sein penibel geordnetes Archiv auch nach seinem Ausstieg aus der Branche 2009 in weißen, mit schwarzem Stift beschrifteten Kisten aufbewahrte und der spätestens seit der Übernahme des Labels durch Diesel-Chef Renzo Rosso und dem Siegeszug des Internets mit der Branche fremdelte.

Vielleicht gelingt es der Doku langfristig auch, jene Verdienste des scheuen Modemachers zu würdigen, die die lauten Selbstvermarkter der Modeindustrie fast haben vergessen lassen. Es wäre ihm zu wünschen. (Anne Feldkamp, RONDO, 18.5.2021)