Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński, die beiden starken Männer in Ungarn und Polen, sind drauf und dran, das Haushaltsbudget der Europäischen Union zu torpedieren und damit die ganze Union in eine Existenzkrise zu stürzen.

Sie wollen die europäischen Menschenrechtsstandards nicht akzeptieren und vor allem keine Flüchtlinge aufnehmen. Warum die Aufregung, fragt sich der westliche Zeitungsleser, sind doch ihre Länder von der Migration weit weniger betroffen als andere. Die meisten Flüchtlinge wollen nach Deutschland oder Schweden, kaum einer nach Osteuropa. Der bulgarischstämmige Politologe Ivan Krastev hat eine Antwort auf das Rätsel: Es geht um die Ehre.

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Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński, die beiden starken Männer in Ungarn und Polen, als Puppen bei einer Parade in Düsseldorf.
Foto: REUTERS/Thilo Schmuelgen

Die osteuropäischen Populisten haben es satt, von den liberalen westeuropäischen Eliten bevormundet zu werden. "Brüssel" ist für sie der Inbegriff der liberalen Demokratie und von deren Werten, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz und der Medien. In seinem Buch "Das Licht, das erlosch" schildert Krastev, wie diese Werte und dieses Europa für viele Osteuropäer einst ein ersehnter Traum waren und später zu einem Albtraum geworden sind.

Im Jahr 1989 riefen die Massen auf dem Prager Wenzelsplatz in Sprechchören: Wir wollen zurück nach Europa! Wenige Jahre später sagte der damalige tschechische Ministerpräsident Václav Klaus: Wir wollen nicht in Europa aufgehen wie der Zucker im Kaffee. Man sei jahrhundertelang von Wien aus regiert worden, dann von Moskau aus, dann von Brüssel aus. Jetzt wolle man endlich einmal selbst bestimmen.

Und Viktor Orbán erklärte: Einst haben wir gesagt, Europa ist unsere Zukunft. Jetzt sagen wir: Wir sind die Zukunft Europas. Nicht wir werden die Westeuropäer nachahmen, sondern sie uns.

Horrorszenario

Viele Bewohner des einstigen Ostblocks hatten erwartet, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums würden sie als Teil des demokratischen Europa binnen kurzem auch den Wohlstand der Westeuropäer erreichen. Als das nicht geschah, war die Enttäuschung groß. Und als sie erlebten, dass die Europäische Union ihre demokratischen Fortschritte evaluierte und Aufnahmebedingungen stellte, wurde das als Demütigung empfunden. Die Flüchtlingskrise tat ein Übriges: Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenzen öffnete, war das für Viktor Orbán und Co ein Ausverkauf der europäischen Identität.

Und noch etwas: Über die offenen Grenzen strömten nicht nur Nichteuropäer in die Europäische Union, sondern auch Osteuropäer in den Westen. Rumänien hat in den letzten Jahren auf diese Weise ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Überall im ehemaligen Ostblock sind die Geburtenraten niedrig. Viktor Orbáns Horrorszenario: Wenn das so weitergeht, bedeutet das das Ende der ungarischen Nation.

Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Sie kann und darf ihre demokratischen Standards nicht aufgeben. Aber es schadet nichts, zu versuchen, auch jene zu verstehen, die diese ablehnen. Ob ein Kompromiss gefunden werden kann oder nicht, wird eine der größten Herausforderungen sein, die das Bündnis je erlebt hat. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 10.12.2020)