Kostas Archontakis ist in einem Matriarchat aufgewachsen. In Athen. Also an einem Ort unweit von hier, in einer Gesellschaft nicht unähnlich unserer, mitten in Europa. Wer das Matriarchat, also eine mütterbezogene Gesellschaft, erleben will, muss also nicht zwingend in die Vergangenheit oder in die Ferne blicken.

Dass Archontakis’ Eltern nach matriarchalem Muster leben, hat mit ihrer Herkunft zu tun. Seine Mutter kommt aus Izmir und sein Vater von Kreta. Beide Orte haben eine lange Handelstradition. Während die Männer auf See waren, blieben die Frauen an Land, solidarisierten sich untereinander und regelten das Zusammenleben praktisch im Alleingang. Die daraus entstandene Form der Organisation bewährt sich für deren Nachkommen bis heute, auch wenn viele von ihnen mittlerweile woanders leben.

Taschengeld für Männer

Archontakis hält das Patriarchat für ein seltsames Konzept – auch vom Kapitalismus hält er nicht viel. Für ihn zeigt das Patriarchat, wie die Wirtschaft organisiert ist und wie sich Menschen innerhalb dieser gegenseitig zu dominieren versuchen. "Diese hierarchisierende Dynamik überträgt sich auch auf das Private. So etwas ist mir fremd. Womit ich aufgewachsen bin, sind zwei Menschen, die gut und respektvoll zusammenarbeiten – ohne klare Vorstellung, wer für was zuständig ist", erinnert sich der Soziologe. Sein Großvater spülte schon in den 1930er-Jahren Geschirr. Eigenartig war das aber nur für jene, die von außen darauf blickten.

Er berichtet von Männern, die mit einem Taschengeld von 20 Euro pro Tag auskommen müssen, weil ihre Frauen entschieden haben, dass die Familie sonst nicht über die Runden kommt. In seinem Umfeld ist es üblich, dass die Frauen die Finanzen verwalten. "Als ich und meine Schwester ein Sprachdiplom machen wollten, wurde das von meiner Tante bezahlt. Sie war die älteste Frau in der Familie und galt deshalb als Familienoberhaupt", so der 32-Jährige.

In Österreich fordert etwa die Burschenschaft Hysteria seit Jahren das Goldene Matriarchat.
DER STANDARD

Die weibliche Entscheidungshoheit kommt auch in anderen Bereichen zum Vorschein. Zum Beispiel in der Politik: Archontakis erzählt von Familien, in denen die Frauen bestimmen, wen ihre Verwandtschaft zu wählen hat. Während in seiner Familie die politische Gesinnung und Wahlentscheidung eine persönliche Angelegenheit ist, wird in puncto Bildung stärker Einfluss genommen: "Als ein Onkel einst meinte, dass es wohl an der Zeit sei, dass die Kids sich eine Arbeit suchen, setzten sich die Frauen dafür ein, dass sie ihre Bildungsambitionen weiterhin verfolgen konnten", erzählt er weiter.

Brauchtümliche Blase

Und als der Nachhilfelehrer eines Tages zu seiner Schwester und deren Freundin sagte, dass es egal sei, ob sie sich verbesserten, weil sie ohnehin heiraten würden, wurde er von Archontakis’ Mutter geradewegs rausgeworfen. Die Werte, die der Lehrer mit dieser Aussage ins Haus trug, sollten dort keine Verbreitung finden. "Das Problem ist, dass, auch wenn man jemanden findet, der die eigenen Vorstellungen teilt, man immer in einer Blase lebt. Das Matriarchat entspricht nicht der Norm. Das merkt man, sobald man das Haus verlässt", sagt Archontakis. So ist der Alltag, in dem er groß geworden ist, letztlich auch nicht mehr als eine brauchtümliche Blase innerhalb einer patriarchalen Welt.

Was Archontakis beschreibt, stimmt mit dem populären Verständnis von Matriarchat überein. Nämlich eine Gesellschaftsordnung, die hauptsächlich von Frauen geprägt ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Männer beherrscht oder benachteiligt werden. "Das Matriarchat wird gerne als die Umkehrung des Patriarchats verstanden. Ist es aber nicht", sagt Archontakis. Vielmehr steht es für die absolute Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter. So widersprüchlich das auch für manche klingen mag.

Gemeinschaft vor Individuum

Frauen haben das erste und letzte Wort, ja. Und dennoch werden einseitige Bereicherungen vermieden und Entscheidungen letztendlich einvernehmlich getroffen – so etwa auch beim Taschengeld oder der zu wählenden Partei. Einzig beim Nachhilfelehrer gab es keine Widerrede, erinnert sich Archontakis. Aber da waren sich insgeheim wohl eh alle einig. Im Matriarchat steht die Gemeinschaft und nicht das Individuum im Vordergrund, argumentieren die Verfechtenden der Idee. Frauen gelten dabei als natürliche Autoritäten, die konsultiert werden, und nicht als selbsternannte Herrscherinnen, die dominieren. Daraus ergebe sich ein egalitäres Miteinander.

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Auch wenn das Beispiel von Kostas Archontakis zunächst etwas anderes vermuten lässt: Die Idee des Mariarchats besteht nicht darin, dass Frauen über Männer dominieren, sondern in einer gleichmäßigen Integration und Förderung aller Geschlechter. In der öffentlichen Debatte geht diese Forderung aber oft verloren und wird als die Umkehrung des einen Extrems ins andere verstanden. Verspricht das Matriarchat vielleicht zu viel? Oder braucht eine Bewegung zugespitzte und auch polarisierende Kampfbegriffe, um etwas zu erreichen?

Den Fürsprechenden des Matriarchats geht es jedenfalls nicht zwingend darum, dass wir alle leben wie Kostas Archontakis oder gar Extrembeispiele wie das ebenfalls matriarchal organisierte Mosuo-Volk in Südchina, das noch dazu gänzlich anders aufgebaut ist. Stattdessen kann man sich das Matriarchat als Gefäß vorstellen, das jede Generation mit ihren feministischen und humanistischen Idealen füllt. "Jede Frauenbewegung hat im Matriarchat das gesehen, was sie gefordert hat", sagt die Schweizer Kulturwissenschafterin und Autorin Meret Fehlmann und spricht in ihrem Werk Die Rede vom Matriarchat von einem "wandelbaren Konstrukt". Das Matriarchat und seine Inhalte haben sich immer wieder gewandelt, auch weil sich viele Forderungen der Bewegung seither erfüllt haben, aber immer wieder auch neue dazugekommen sind.

Vieles erreicht, vieles noch vor

So haben Frauen im 19. Jahrhundert beispielsweise noch die Stimm- und Erbberechtigung gefordert – Ansprüche, die mittlerweile fast überall gesetzlich geregelt sind. Manchmal erreicht der Feminismus diese Forderungen auch so und kommt ohne Forderungen nach dem Matriarchat aus, andere Male wird es aber wieder hervorgeholt.

So wie in der aktuellen Situation. Gerade in Westeuropa kursiert das Wort regelmäßig durch feministische Diskussionen und Texte. Neu ist, dass man diesmal verstärkt inklusiv denkt und nicht mehr allzu spirituell unterwegs ist.

Weltweit gehen Menschen für Frauenrechte auf die Straße.
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Darin unterscheidet sich der aktuelle Matriarchatsdiskurs von früheren Debatten, denen zum Beispiel vorgeworfen wurde, dass sie nur weiße, mittelständische Frauen berücksichtigen würden. "Das zeigt, dass sich das Matriarchat immer wieder mit neuen Themen anreichern kann", sagt Fehlmann. Es zeigt, wie sich der Begriff wandelt und mit ihm die gesamten Ideologie, die dahintersteht.

Man könnte es also auch so auslegen: Das Matriarchat verdeutlicht, was gerade falsch läuft. Es legt den Finger in die Wunden der Gesellschaft und hilft, darüber nachzudenken, wie ein Zusammenleben anders funktionieren könnte.

Gesellschaftliches Gegenmodell

Wie das ideale Gesellschaftsbild aussieht, das man in den Begriff hineinprojiziert, ist abhängig von den jeweiligen Erfahrungen und Erlebnissen und dem Lebensabschnitt, in dem man sich befindet. Kommen beispielsweise Kinder ins Spiel, merken viele, dass der Anspruch, sich alles gleichmäßig und gleichberechtigt aufzuteilen, einfach nicht aufgeht.

Die Geschlechtererwartungen wirken subtil in unseren Köpfen – und genau dort müssten sie sich auch wieder auflösen. "Wahrscheinlich könnte man den Begriff Matriarchat auch beerdigen und sich einfach um eine gerechtere Gesellschaft für alle, aber insbesondere für die Schwächeren, kümmern", so Fehlmann. Es wäre ihrer Ansicht nach zielführender, genau auszuformulieren, was man erreichen möchte, anstatt permanent von einem Matriarchat zu sprechen.

Doch der Begriff setzt sich durch. Immer und immer wieder. Vermutlich weil er dem Kampf gegen Ungleichbehandlung einen Namen gibt. Durch den sich bereits vieles verbessert hat, aber nach wie vor einiges bessern müsste. Letztlich ist es das, wofür das Matriarchat steht: die Idee einer gerechteren Gesellschaft. Diese hält für immer, weil sie sich mit jeder Generation verändert.

Aber sollten die Ideale des Matriarchats nicht längst Mindestkonsens einer modernen pluralistischen Gesellschaft sein? "Vieles von dem, was gefordert wird, ist für mich seit eh und je normal. Auf mich wirkt die Diskussion, als würden wir gerade das Feuer wiederentdecken", sagt Archontakis. (Elena Lynch, 20.12.2020)