Lieder wie Schlussplädoyers versammelt der Soul-Sampler "Down & Out" von Jonathan Fischer. Hier fleht ein junger Solomon Burke um Gnade.

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Schon der Rhythmus macht klar, dass die Contenance des Sängers gleich kippen wird. Dann hebt Sam Dees an, am Anschlag, aus vollen Lungen. Es formt sich ein Sturzbach der Gefühle: "See – the tears in my eyes, since my baby is long gone." Mehr noch als der Text ist es die Intonation, die einen packt. Sie beschreibt jene Verzweiflung, deren Vermessung dieser Musik ihren Namen gibt: Deep Soul.

Der Begriff ist ein Synonym für Southern Soul, für Soul-Musik aus dem US-amerikanischen Süden. Dort ist die Inbrunst des Gospels der unzertrennliche Zwilling der Ekstase, die zwischen den Laken entsteht, die Übermittlung beider Gefühle intensiv: deep. Besonders im Süden transportiert diese Musik zusätzlich das Erbe der Sklaverei in ihrer kollektiven Biografie eingeschrieben – mit allen Nachwehen bis herauf in die Gegenwart.

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Mit Deep Soul ist daraus eine Kunst erwachsen, die sich in den 1950ern sammelte und die in den 1960ern explodierte. Ihre Brutstätten waren unzählige Kleinstlabels, ihr Medium war die Single, Sammler zahlen heute obszöne Preise für Raritäten, derer es unzählige gibt.

Country und Soul

Um sie der Öffentlichkeit nahezubringen, gibt es Sampler. Viele versammeln die immer gleichen 20 Songs, andere sind erlesener, nur wenige so gut, wie jene, die der Münchner Black-Music-Experte Jonathan Fischer zusammenstellt. Er veröffentlichte 1998 mit Down & Out – The Sad Soul of the Black South einen ersten Themenschwerpunkt. Dieser ist nun neu aufgelegt worden: erstmals auf Vinyl.

Insgesamt 16 Kompilationen hat Fischer beim deutschen Label Trikont verlegt. Sie behandeln die Verflechtung von Country-Music und Soul, Politik und schwarzer Musik, den Einfluss von Muhammad Ali auf die schwarze Popkultur und anderes mehr.

Morbide Orgeln

Auf der CD-Version von Down & Out befinden sich zwei Dutzend Herzausreißer, in der Vinylversion wird das Menü dieser Schatztruhe halbiert – was die Hoffnung nährt, dass die zweite Hälfte auch noch kommt.

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Dem Inhalt der Musik folgt seine Form. Fischer schreibt im Begleittext von "schleppenden Bläsern, schluchzenden Backgroundchören und morbiden Kirchenorgeln" und zitiert den Songwriter Roosevelt Jamison: "Wir wollten einen Geschmack von Gott in den Blues bringen." Jamison wusste, wovon er sprach: Er hat mit James Carr und O. V. Wright zwei der Giganten des Fachs entdeckt.

Crying, Cry, Cried ...

Deep Soul mag Sufferer-Music sein, Leider-Musik, doch bei aller Verzweiflung trägt sie etwas grundsätzlich Lebensbejahendes in sich. Das äußert sich in der subtilen Funkiness dieser Kleinode ebenso wie in Wortspielen, die erkennen lassen, dass der Humor im Tränenmeer nicht ersoffen ist.

Und Tränen bietet Down & Out reichlich: George Perkins singt Crying In the Streets, Joe Medwick gesteht I Cried, Ella Washington bittet zu Sit Down and Cry. Daneben gibt es heftige Dramen wie Down on Bended Knees, in dem Johnny Copeland seine Verflossene anfleht, zu ihm zurückzukehren. Er dachte, wenn sie weg wäre, würde alles gut, doch das Gegenteil ist der Fall.

Johnny Copeland - Topic

Fischer nennt diese Lieder die dunklere Variante des Südstaaten-Soul. Tatsächlich stehen alle Chronisten mit dem Rücken zur Wand. Ihr letzter Ausweg scheinen diese Zwei- und Dreiminüter zu sein, Lieder wie Schlussplädoyers. Letzte Erklärungsversuche, bevor das eigene Schicksal in fremde Hände gelegt wird. Jede und jeder singt hier um ihr und sein Leben. Kinnladen vibrieren, der Himmel trägt schwer an Moll, die Ewigkeit schaut um die Ecke. Das ist Drohung und Hoffnung zugleich.

Zumindest in der Musik setzt sich die Hoffnung durch: Sie ist für die Ewigkeit gemacht, ihre Themen existenziell, ihre Umsetzung universell spürbar. Es ist Seelenmusik und als solche – anders als ihre Schöpfer – unvergänglich. (Karl Fluch, 5.1.2021)