Wolle – woher nehmen?

Foto: imago images/Petra Schneider

(Jännermorgen 2021. Schlafzimmer einer Altbauwohnung. Im Bett eine Frau um die sechzig, eine große, bunte Wolldecke strickend. Vor dem geöffneten Kleiderschrank ihr ungefähr gleichaltriger Ehemann in Socken, Hemd und langer Unterhose.)

MANN: Ich find’ keinen Pullover. Sind die alle in der Wäsch’?

FRAU: Nein. Die hab’ ich aufgetrennt.

MANN (fassungslos): Aufgetrennt?

FRAU (achselzuckend): Irgendwie muss man sich beschäftigen. Die Bücher sind abgestaubt, die CDs sind geordnet, die Schuh’ sind geputzt, das Silberbesteck auch. Der Tiefkühler ist voll mit den Sachen, die ich vorgekocht hab’. Ausmalen geht nicht, weil kein Material da ist. Und Stricken ist wenigstens etwas Sinnvolles.

MANN: Aber hast du dazu unbedingt meine Pullover auftrennen müssen?

FRAU: Wo hätt’ ich sonst eine Wolle herkriegen sollen? Is’ ja alles zu. Ich wollt’ dir eh gleich einen neuen stricken, aber ich hab’ gemerkt, ich bin ein bisschen aus der Übung, deswegen hab’ ich mit was Einfacherem angefangen. (Hebt die Decke hoch.) Wird schön, oder?

MANN: Sehr schön, ja. Trotzdem wär’s mir lieber, du würdest dich mit was anderem beschäftigen.

FRAU: Und womit, bitte?

MANN: Was weiß ich … Wir könnten Ski fahren gehen.

FRAU: Ohne Pullover?

(Vorhang)

(Antonio Fian, 8.1.2021)