Medaillenhoffnung Katharina Liensberger, Sekunden bevor sie sich als Halbzeitführende in den zweiten Durchgang des WM-Slaloms wuchtet, Fußballgott Lionel Messi schreitet im letzten Spiel seiner Karriere zum entscheidenden Elfmeter im WM-Finale, Tennis-Ass Dominic Thiem hat nach fünf Stunden völlig entkräftet endlich den ersten Championship-Point gegen Rafael Nadal in Paris – alles Situationen, die die Nerven von Sportfans ähnlich strapazieren wie die der Athleten.

Sport lebt von Emotionen, Sportübertragungen leben davon noch um ein Vielfaches mehr. Nicht umsonst gehören mehrminütige Einspieler zur Lebensgeschichte von Sportlern mittlerweile genauso zum Programm wie die obligatorische Reporterfrage nach dem Gefühl in dem Moment, als der Ball im Netz zappelte, oder am Start des Hahnenkammrennens. Wie sehr würden sich Sportmoderatoren wohl erst über die Möglichkeit freuen, den Puls in den eingangs beschriebenen Szenen zu kommentieren. "184, das ist Anspannung pur, das ist Rekordwert! Wird er damit umgehen können?"

Biometrische Überwachung

Die immer größere Verfügbarkeit biometrischer Daten im Spitzensport wirft dabei tatsächlich viele unbeantwortete Fragen auf: Wem gehören sie, wer beschützt sie, wer darf damit Geld verdienen, und ist das moralisch überhaupt vertretbar? Der geneigte Sportfan ist im Nebenberuf selbst ja auch Hobbystatistiker. Maximalgeschwindigkeit, gewonnene Zweikämpfe, verwertete Punkte am Netz, Einsatzminuten pro Torbeteiligung. Alles, was von außen beobachtet werden kann, wird längst von Fernsehstationen ausgewertet.

Sport weckt Emotionen. Viele Industrien wissen das für sich zu nutzen.
Spor Delisi HD

Die Professionalisierung des Profisports hat Mathematiker aber in die innersten Zirkel führender Sportteams vordringen lassen. Dort geht die Datensammlung seit Jahren noch umfassender vonstatten. Die wie Sport-BHs wirkenden Crop-Tops, die Fußballer nach dem Trikottausch manchmal herzeigen, sind ein Beispiel solcher Datensammelmaschinen, aber auch Smartwatches und zahlreiche Health-Apps zählen längst zum Standard-Repertoire. Sie erlauben Teams ein noch gezielteres Training und den Athleten eine medizinische Überprüfung der Körpersignale. Wer übertrainiert und damit verletzungsanfällig ist, wird geschont.

Für die Öffentlichkeit sind diese Daten eigentlich nicht gedacht, handelt es sich doch – anders als Tor-Statistiken oder in Bewerben erzielte Bestzeiten – um die privaten Informationen eines Menschen, die nicht jeder beobachten kann, der im Stadion oder zu Hause sitzt. Klar ist aber auch, dass neben den Teams und den Sportlern selbst auch noch weitere Branchen an den Daten interessiert wären. Neben der Wissenschaft sind dies vor allem die Sport-Broadcaster und die Wettanbieter.

Das totale Live-Erlebnis

Erstere könnten dadurch noch tiefer ins Sport-Entertainment eintauchen und Zuschauern noch mehr multimediale Inhalte anbieten und diese lukrativ via Bezahlabos oder Second Screens vermarkten. Der Sport vor Ort wird zum totalen Live-Erlebnis daheim. In der Vergangenheit wurde damit bereits experimentiert – bei Radrennen trugen Sportler vereinzelt Pulsmessgurte, die den mitfiebernden Massen zeigten, wer beim finalen Anstieg tatsächlich schon am Anschlag kurbelt.

Diese Erlebnisse aus erster Hand bringen wiederum die Wettanbieter ins Spiel. Sie würden die vermehrte Integration biometrischer Daten wohl alleine deshalb schon goutieren, weil sie Sportbegeisterten ein noch invasiveres Live-Erlebnis bieten kann. Und richtig: Wer mehr von der Materie gefesselt ist, ist auch eher bereit, Geld einzusetzen. Haben früher Insider vom Wissen über den verstauchten Knöchel des favorisierten Rennpferds profitiert, so könnten Wettende schon bald aus der Sauerstoffsättigung im Blut des Topstars einen möglichen Leistungsabfall im letzten Viertel ableiten. Das ist aus gesundheitlicher Sicht insofern problematisch, als "Menschen eher bereit sind zu spielen, wenn sie im Glauben sind, mehr über den möglichen Spielausgang zu wissen", sagt Monika Lierzer von der Fachstelle für Glücksspielsucht Steiermark.

Eine weitere Befürchtung in Sachen Datensammlerei: Wettanbieter könnten sie exklusiv nutzen und die Quoten manipulieren. Ein Szenario, das es Sportfans kalt über den Rücken laufen lässt. Der Tennissport versucht schon seit Jahren sein Problem mit etlichen geschobenen Partien zu beheben, den Radsport plagen längst Glaubwürdigkeitsprobleme. Ein Mehr an verfügbaren Daten könnte ähnlichen Betrügereien hier Tür und Tor öffnen.

Genau deshalb schlagen sportbegeisterte Rechtsgelehrte in den USA Alarm. Seit das Höchstgericht das Sportwettenverbot im Jahr 2018 kippte, boomt die Branche. Knapp die Hälfte aller Bundesstaaten dürfte bis Jahresende Sportwetten legalisiert haben.

Seither schaut alles auf die Big Four aus Baseball (MLB), Basketball (NBA), American Football (NFL) und Eishockey (NHL). Während die NBA bisher jeden Einsatz biometrischer Spielerdaten verbot, untersagte die MLB lediglich deren Kommerzialisierung und bot allen Spielern Opt-outs an. Der Anwalt der NBA-Spielervereinigung sagte 2020: "Unter keinen Umständen sollte der Puls, die DNA, die Knochen- und Muskeldichte oder der Schlafrhythmus Teil von Tarifverhandlungen sein."

Sportler fürchten sich zusehends wie Rennpferde betrachtet zu werden, sollten ihre biometrische Daten tatsächlich für Werbe- oder Sportwettenzwecke verkauft werden.
Foto: istock

Im Football hingegen erlaubte ein Deal mit einer Fitnesstracking-App Spielern den Verkauf ihrer Biometriedaten. Und auch die NHL verkauft die Daten des Pucks sowie Bewegungsprofile an Fantasy-Ligen und sogar an den Kasino-Betreiber MGM Resorts International. Weitere Ligen zeigen Interesse. NHL-Spielerunionsvertreter Mike Ouellet zeigte sich daraufhin erbost und betonte, dass die Spieler "keine Rennpferde" seien. Viele Spieler fänden den Einsatz moralisch mehr als fragwürdig.

Wie der Sportwettenmarkt im Allgemeinen steckt auch der Umgang mit biometrischen Daten in den USA noch in den Kinderschuhen. Spannende Diskussionen über den Einsatz der biometrischen Daten scheinen aber vorprogrammiert. Vor allem im College-Sport, wo strenge Gehaltsobergrenzen gelten und kaum Sponsoring erlaubt ist, könnte der Datenverkauf – an wen auch immer – ein paar zusätzliche Dollar in die Sportlerkassen spülen.

Reglementierungsversuche

An entsprechenden Regulierungen fehlt es bisher großteils. Die Football-Mannschaft der University of Michigan war die erste, die einen Deal zur Datenweitergabe mit einer Nike-Subfirma einging. Der Datenrechtsexperte David Sussmann plädiert deshalb dafür, dass sich Teams und Ligen möglichst bald "um eine strikte Kontrolle für den Einsatz biometrischer Daten" kümmern.

US-Sport ist bis auf den Superbowl für den europäischen Sportwettenmarkt von überschaubarem Interesse. Weit mehr als die Hälfte aller deutschen Wetten werden etwa auf Fußballspiele platziert. Tennis ist die einzige weitere Sportart, die noch einen zweistelligen Prozentanteil des Marktes abgreifen kann. Insgesamt wächst die Sportglücksspiel-Branche aber auch hier seit Jahren. In Deutschland wurden alleine 2019 9,28 Milliarden Euro an Einsätzen für Sportwetten getätigt. An Steuern abgeführt in Steueroasen wie Malta, Gibraltar oder die Isle of Man, wo die Wettanbieter hauptsächlich sitzen, wurden davon gerade einmal 460 Millionen Euro.

Jahrelang hatte sie der deutsche Staat im Sinne seines staatlichen Sportwettenmonopols zu bekämpfen versucht, doch die Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU machte solchen Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Nun legalisiert der Staat ab Juli 2021 das private Online-Glücksspiel und Sportwetten kurzerhand und vergibt in einem neuen Staatsvertrag dutzende Lizenzen. Und hofft damit die Staatskassen zu füllen und für einen besseren Spielerschutz zu sorgen.

Quoten gibt es immer und überall.
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So dürfen in Deutschland etwa keine neuen Wettbüros in einem 500-Meter-Abstand zu Schulen errichtet werden. Jugendschützer kritisieren aber die nachträgliche Legitimierung bestehender Infrastruktur. Auch Livewetten wurden ob ihres Suchtfaktors eingeschränkt. So kann beim nördlichen Nachbarn während eines Fußballmatches nicht mehr auf den nächsten Torschützen, die nächste Verwarnung oder den nächsten Eckball gesetzt werden, sondern nur mehr auf den Spielausgang. Zudem versuchen große Anbieter mittels Algorithmen problematisches Spielverhalten bei Kunden immer früher zu erkennen und so möglichst früh entgegenzuwirken.

Im Gegensatz zu Österreich gelten Sportwetten in Deutschland aber zumindest als Glücksspiel. Einer langjährigen Forderung nach Gleichstellung bei der Einstufung kamen die Behörden hierzulande bisher aber nicht nach, sagt Lierzer. In anderen Staaten Europas, etwa in Großbritannien, werden Sportwettmöglichkeiten langsam, aber zusehends zurückgeschraubt – ein wilder, oft unregulierter Markt zusehends engmaschiger überwacht.

Während Europa mehr oder weniger ernst zu regulieren versucht und die USA ihren Zugang erst finden müssen, wird der asiatische Markt umso spannender. Einer großen Statista-Umfrage zufolge wetten in Deutschland zwei Prozent offline und sechs Prozent online auf Sport. Trotz staatlichen Verbots wettete ein Drittel der chinesischen Bevölkerung bereits einmal auf Sport. Man weicht dabei auf das Internet oder die Glücksspielexklave Macau aus. Wer weiß, wie es um den Datenschutz im Reich der Mitte bestellt ist, kann nur hoffen, dass schnell Regeln zum Schutz biometrischer Daten eingeführt werden. (Fabian Sommavilla, 9.2.2020)