Foto: www.corn.at Heribert CORN

Seit zu Beginn der Corona-Pandemie der Staat in ungewohnter Weise restriktiv in Freiheiten der Bürger eingreift, flammt immer wieder die Debatte darüber auf, wie weit er das darf. Seltener spricht man über die Schutzpflicht des Staates. Andreas Müller, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Innsbruck, beschäftigt sich intensiv mit den als Gegensatzpaar verwendeten Begriffen Rechtsstaat und Überwachungsstaat und ihrem komplexen Verhältnis.

"Die Zügelung staatlicher Macht erfolgt in Form von Verfassungsbindung, Gewaltenteilung, demokratischer Kontrolle", sagt der Experte für Menschenrechtsschutz und humanitäres Völkerrecht im Gespräch mit dem STANDARD. Auch die Menschenrechte stellen eine "Begrenzung staatlichen Handelns" dar. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) steht nicht umsonst im Verfassungsrang.

Das Recht auf Leben

Doch wer sich dieser Tage auf Grund- und Menschenrechte beruft, hat oft nur bestimmte Rechte im Kopf und vergisst dabei auf andere. Wer etwa auf das Versammlungsrecht pocht, auch wenn dabei die Gesundheit und das Leben anderer gefährdet sind, denkt nicht immer an den zweiten Artikel der EMRK, das Recht auf Leben.

Es gibt "tatsächlich kaum ein Grundrecht, das abwägungsresistent ist", betont Müller. Das heißt, der Staat muss ständig zwischen Grundrechten abwägen – nicht erst seit Corona. Müller führt Beispiele wie den privaten Raum an: "Die Wohnung, also der private Raum, muss völlig unantastbar sein, er ist es aber nicht mehr, wenn Sie darin ein Verbrechen begehen, etwa im Falle häuslicher Gewalt. Da muss der Staat eingreifen." Oder die Meinungsfreiheit: Sie bedeutet nicht, dass man Menschen öffentlich beleidigen oder gegen sie hetzen darf.

Selbst das Recht zu leben gilt dann nicht mehr, wenn der Staat aus Notwehr tötet – etwa einen Terroristen, der sonst andere Menschen umbringen würde.

Abwägungsresistent sind nur zwei Verbote: das Folterverbot und das Sklavereiverbot. "Beide verhindern, dass ein Mensch zu einem Zweck oder einer Sache gemacht wird", erklärt Müller. Ein anderes Beispiel einer Abwägung: "Wenn ein Staat Alkohol erlaubt, weiß er, dass das so und so viele Leben kosten wird. Aber er muss auch die Privatsphäre achten und kann nicht nach Belieben in ein anderes Recht eingreifen." So stellt sich stets die Frage: Welches Recht kommt vor welchem?

Erwerbsfreiheit

Bezüglich aktueller Diskussionen über die Einschränkung der Versammlungsfreiheit von Corona-Leugnern bemüht Müller auch den Vergleich mit dem Recht auf Erwerbsfreiheit. Dieses ist seit Monaten – etwa im Handel, bei Wirten und Künstlern – eingeschränkt. Steigen die Zahlen nach Massenansammlungen maskenloser Demonstranten, hat das Einfluss auf die Erwerbsfreiheit der besagten Gruppen.

Gleichzeitig führen restriktive Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen zu erhöhten Suizidzahlen und häuslicher Gewalt, auch hier hat der Staat eine Schutzfunktion wahrzunehmen – aber eben auch gegenüber allen vulnerablen Gruppen, die am Virus versterben.

Der Staat spiele in diesem "Verteilungskampf der Grundrechte die Rolle des Schiedsrichters und Distributors", so Müller, "das Parlament muss dabei jede Grundrechtseinschränkung absegnen."

Leitplanke Justiz

"Würde der Staat jetzt einfach alles laufen lassen, alles aufmachen nichts überwachen, wäre diese Strategie ein Verstoß gegen Artikel zwei", so der Menschenrechtsexperte, "und eine Verletzung seiner Schutzpflicht." Er habe einen Gestaltungsspielraum – wie ein Auto auf einer Straße. "Die Justiz ist eine Leitplanke auf dieser Straße. Würde man auf Herdenimmunität setzen und viele Tausende zusätzliche Tote in Kauf nehmen, wäre das eine Fahrt außerhalb der Leitplanke", resümiert Müller. (Colette M. Schmidt, 2.2.2021)