Anfang Dezember dürfte es gewesen sein. Da staunte Ronny. Denn da waren plötzlich Linien auf dem Beton. So, wie sich das auf einem echten Tennisplatz gehört: schnurgerade, präzise und schmal. Zwei, vielleicht drei Zentimeter breit. Einfach so, also mit der Spraydose aus der Hand entlang einer gespannten Schnur, kriegt man das nicht hin: "Da muss jemand eine Schablone aufgelegt haben", sagt Ronny – und beteuert: "Ich war das nicht. Der, der das getan hat, hat eine Ahnung vom Tennis: Die Maße stimmen." Ronny greift in die Tasche seiner hellblauen Sporthose, kramt einen Tennisball heraus und legt entschuldigend den Kopf schief: "Ich muss weitermachen. Wenn ich mich nicht bewege, wird es kalt – man ist hier zwar vor Regen, aber nicht vor dem Wind geschützt."

Unter der Brücke wird Tennis gespielt.
Foto: Thomas Rottenberg

Aufschlag. Der gelbe Ball knallt zehn Zentimeter oberhalb des schon vor längerem an den Brückenpfosten gesprayten "Netzes" gegen die Wand. Kommt zurück, schlägt links vor Ronny auf dem Boden auf: Rückhand – Wand – Boden. Rückhand – Wand – Boden. Die drei unterschiedlichen "Plopps" des Balles mischen sich mit dem Rauschen des Morgenverkehrs von oben – und verlieren sich in ihm: Schließlich bleibt kaum jemand länger als für einen kurzen Wortwechsel bei Ronny stehen.

Kein Platz zum Verweilen

Wenn überhaupt. Die meisten Passanten – Radfahrer, Läufer, Hundeausführer oder Spaziergänger – nehmen den Tennisspieler unter der Tangentenbrücke höchstens aus dem Augenwinkel wahr: Okay, da spielt halt einer Tennis. Unter der Brücke. Na und? Und ein paar Meter weiter, wo der Betonplatz zur Schottersenke wird, hat unlängst wer Feuer gemacht. So what? Schon ist man weiter: Der Platz lädt nicht zum Verweilen ein. Ist ein Nichtort unter einem Zweckbau. Oben fahren Autos, unten queren Rad-, Treppel- und Fußwege. Nebenan fließt der Fluss, steht das Entlastungsgerinne. Es ist zugig und kalt: Der Platz hat nichts. Kann nichts. Bedeutet nichts. Einer, der einen Tennisball an den Pfeiler drischt. Eine verwaiste Feuerstelle: Na und? Dieser Ort hat und erzählt keine Geschichte. Oder doch?

Auch Darts-Begeisterte dürften hier einen Platz gefunden haben.
Foto: Thomas Rottenberg

Vielleicht ja doch. Gerade weil er ein Nichtort ist. Niemand stehen bleibt. Hinsieht. Oben ginge das sowieso nicht: Oben, das ist die Praterbrücke. Die A23. Hier führt die Südosttangente über die Donau. Gut 200.000 Fahrzeuge nutzen sie täglich. Damit ist das von 1967 bis 1970 – sechsspurig – errichtete Bauwerk Österreichs am stärksten befahrene und – trotz der Erweiterung auf acht Spuren im Zuge des Kraftwerksbaus in der Freudenau – meistverstaute Brücke. Letzteres weiß, wer den Verkehrsfunk hört. Unter den Autofahrbahnen führen ein Fuß- und ein Radweg vom Prater auf die Donauinsel.

Theoretisch ist der Verkehr gesplittet: Fußgänger gehen auf der flussabwärts gelegenen Seite, Radfahrer fahren flussaufwärts. Praktisch kümmert sich niemand drum. Auch weil der Fußweg vom Prater aus kaum zu finden und der stadtseitige Abgang zur Donau nicht barrierefrei ist. Außerdem ist der Blick donauaufwärts auf die Stadt ein beliebtes Fotomotiv – ganz besonders bei Sonnenuntergang. Dass die Sonnenaufgänge auf der Fußgängerseite ein Hammer sind, weiß hingegen kaum jemand. Dass die inselseitige Rad-Wendel aufgrund ihrer Enge eine der Wiener Rad-Rad-Hauptunfallstellen ist, ist bei Stadtradfahrern dagegen seit Jahren bekannt.

Mikrokosmos unter der Brücke

Nur gibt es hier außer Verkehr noch etwas: Hier, bei Stromkilometer 1.925,8, inselseitig und unter der Brücke, hat sich ein Lebensraum entwickelt. Ein Mikrokosmos. Hier wird gewohnt, gelebt, gefeiert und Sport betrieben. Vor den Augen der Stadt – und doch unbemerkt. Die Stadt, ihre Bewohnerinnen und Bewohner, schauen gar nicht eigens weg. Sie haben das Sehen verlernt. Verlernt, Details wahrzunehmen – und die kleinen Mosaiksteinchen alltäglicher Beobachtungen dann zu Bildern zusammenzufügen.

Da wäre zum Beispiel die Frau auf dem Boot. Nennen wir sie G. G. müsste sehen, wer die Rad-Wendel nutzt: Frau G. steht oder sitzt nämlich oft auf der kleinen Freiluftplattform eines der Hausfischerboote. Alle anderen Boote sind leer. Winterdicht. Unbelebt. Aber hier stehen zwei Fahrräder. Hängen Decken zum Lüften draussen. Frau G. lacht, wenn man ihr "Guten Morgen" zuruft. Ist freundlich, aber unsicher. Die Slowakin – Pflegerin irgendwo in der Stadt – und ihr Partner sind es nicht gewohnt, wahrgenommen zu werden. Obwohl sie "schon länger" hier sind. "Polizei und Behörden wissen Bescheid."

Es ist eng

Hier, am Wasser, sagt Frau Gs. Partner, ein syrischer Flüchtling, "ist es besser als in der Stadt: Wo man uns unterbringen möchte, ist es eng. Viele Leute sind frustriert, hoffnungslos und aggressiv. Es gibt Gewalt, manche handeln mit Drogen: Wer will so leben?" Mit heiler Welt, Idylle oder gar Donauromantik habe das Leben unter der Brücke aber dennoch nichts zu tun: Es ist laut. Bei Tiefdruckwetter riecht es nach Abgasen – oder aber der Wind pfeift eisig die Donautrasse entlang. Das Wasser kühlt von unten – und das vermeintlich malerische Schaukeln der Wellen kann beim Vorbeifahren großer Schleppverbände auf Dauer nerven. "Trotzdem: Besser hier."

Manche, aber nicht alle der Wohnstätten sind auch winterfest.
Foto: Thomas Rottenberg

Das sieht auch Gabor so. Gabor stammt aus Ungarn und sagt, er werde "religiös verfolgt". Abgesehen davon ist der 42-Jährige ein technisch und handwerklich versierter Alleskönner: Sein selbstgebauter Sperrholz-Rad-Wohnwagen ist winter- und wetterfest. Die Sonnenkollektoren am Dach liefern – wenn er nicht gerade unter der Brücke Schutz sucht – genug Strom, um Handy und Wifi-Hotspot zu versorgen. Energie, die Gabor braucht, um Nachrichten zu produzieren. Videonachrichten und Facebook-Botschaften, die " aber von Youtube und Facebook sofort zensuriert werden". Ob das tatsächlich politisch-religiöse Verfolgung ist oder ihr Verfasser eventuell allzu krude Verschwörungstheorien verzapft, ließe sich anderorts trefflich diskutieren. Unter der Brücke ist nicht der Ort dafür: Es mangelt an Gesprächspartnern, weil niemand stehen bleibt. Im Sommer, wenn Gabors mit einem großen Kreuz ("Ich bin nicht katholisch, das sind Verbrecher – ich bin Christ!") gezierter Wohnwagen auch anderswo im Wiener Grünraum unterwegs ist, wird der "meistens freiwillige" Nomade oft angesprochen. Und erzählt dann, dass das Leben im Rad-Trailer manchmal hart, aber "fast immer schön" sei: "Es geht um die Freiheit, die Natur – und die Liebe." So wie Gabor das sagt, klingt es nicht nach dem Schönreden von Elend und Armut.

Lagerplatz in der Senke

Vermutlich sähen das auch seine Nachbarn so. Aber die sind eher sprechunwillig. Sogar das Schnorren überlassen die wenige Meter neben Gabors Wohnwagen ansässigen Punks einem "Automaten": Neben dem Weg stehen zwei kleine Holzfigurinen, die einen im Wind schaukelnden Becher für Kleingeld hüten. Dahinter, in der schottrigen Senke um den zweiten Brückenpfeiler, ist ein Lagerplatz.

Tagsüber sind seine Bewohnerinnen und Bewohner aber ausgeflogen. Außer einer verlassenen Feuerstelle, einer Pfanne, einem Wok und einer Säge zeugt nur die beim Pfeiler hängende Dartscheibe davon, dass hier Menschen wohnen. Schaut man genauer, entdeckt man im Umfeld verstaut-versteckte Habseligkeiten: Schlafsäcke. Isomatten. Ein paar hoffentlich wasser- und wetterdicht zugezurrte Plastiksäcke und Taschen im Gebüsch. Aber keine Besitzer. Die sieht nur, wer hier zeitig in der Früh vorbeikommt. Aber dann schlafen sie meist. Tagsüber verschluckt sie die Stadt. So wie auch die Bewohner einiger auf den ersten Blick kaum von zufällig etwas dichter gewachsenem Buschwerk unterscheidbaren "Wohnhöhlen" ringsum. Hin und wieder, zumindest war das letzten Winter so, steht auch ein kleines blaues Zelt hier.

Campierverordnung untersagt Wohnen

Ob derlei Wohnen legal ist? De jure natürlich nicht. Die Campierverordnung untersagt das Wohnen, Zelten, Wohnwagenaufstellen und Feuermachen in nicht dafür ausgewiesenen Zonen ausdrücklich. Andererseits wissen Sozial- und Kältehilfsdienste, aber auch Inselaufsicht, Magistrat und Polizei lieber, wo sich wer wie durchschlägt, als Menschen, die ohnehin nichts haben, sind sie ständig in Bewegung und unauffindbar, weil man sie ständig verjagt. Es gibt da ein – natürlich inoffizielles – stilles Agreement, eine ungeschriebene "Etikette": Die Wohn-Schottergrube der Punks ist sauberer als so mancher Inselbereich im Sommer.

Denn Tages-Bade- und -Grillnutzer lassen Müll, Unrat und Verwüstung zurück. Doch die, die in dieser Grauzone eine Heimat gefunden haben, wissen, was ein – sogar dieses – Zuhause wert ist.

Auch Partys finden unter der Brücke statt.
Foto: Thomas Rottenberg

Das Gleiche gilt für die Soundsysteme und Partygruppen, die diese Zone als Spielplatz entdeckt haben: So wild die nächtlichen Feste im Sommer hier auch waren, so (beinahe) spurlos verschwanden die Feiernden, sobald die Sonne fluss- oder gerinneabwärts mehr als eine Handbreit über dem Horizont stand. Nicht nur hier unter der Tangente, auch an anderen Nichtorten: Im Herzen des Autobahnknotens von Nord- und Gürtelbrücke, im Dickicht des unteren Praters, unterhalb des Kraftwerkes Freudenau auf der Insel oder am Festland oder bei den alten Bunkern von Ölhafen und Lobau.

Wohnen im "Off"

Dort wird ebenfalls im "Off" gewohnt – aber nicht stationär quasi-organisiert gesportelt: Das kann in dieser Form nur die Tangentenbrücke. Nicht erst seit Corona und den damit einhergehenden Sportplatzsperren: Vergangenen Winter sah man auf der betonierten Fläche, auf der jahrelang die zu großen städtischen Algenmähboote rosteten, regelmäßig einen Vater mit seinem Sohn beim semiprofessionellen fußballspezifischen Agility- und Beweglichkeitstraining.

Auch Ronny, der tennispielende Mittvierziger, der vor 25 Jahren Tennisprofi werden wollte, kommt "schon viel länger" – und war schon früher nicht der einzige Tennisspieler hier: "Ich hab die anderen zwar noch nie gesehen, aber ich weiß, dass es sie gibt: Irgendwer muss ja die Linien gezogen haben." (Tom Rottenberg, 5.2.2021)