Eine von November stammende Aufnahme des Kerzen- und Blumenmeers an einem der Tatorte im Bereich der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt.

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Mehr als drei Monate ist es nun her, dass ein islamistischer Terrorist mit einer Waffe durch die Wiener Innenstadt zog. Er tötete vier Menschen und verletzte zahlreiche weitere. Am Ende wurde er selbst von der Polizei erschossen. In welches Netzwerk er eingebettet war, ob und welche Helfer der Terrorist hatte, all das ist weiterhin Gegenstand von Ermittlungen. Doch auch Fragen darüber hinaus sollten geklärt werden: Welche Informationen hatten die Behörden bereits vor dem Anschlag über den zuvor bereits verurteilten und aus der Haft entlassenen Terroristen? Und leisteten sich die Behörden im Vorfeld Fehler?

Schon wenige Tage nach dem Attentat wurde bekannt, dass die Gefahr trotz entsprechender Hinweise nicht erkannt worden war. Eine von Innen- und Justizministerium eingesetzte Untersuchungskommission sollte nun klären, was im Vorfeld schiefgelaufen ist. Mehrere Wochen arbeitete die Kommission unter der Leitung der Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes an der Beantwortung offener Fragen. Bereits in einem ersten Zwischenbericht wurde besonders das Agieren des Verfassungsschutzes kritisiert: Warnhinweise wurden übersehen, Risikoeinschätzungen immer wieder verschoben und essenzielle Informationen intern nicht weitergegeben.

Verfestigung der bisherigen Erkenntnisse

Am Mittwoch übermittelte die Kommission den Ministerien die Endfassung des Berichts. Die vorläufigen Erkenntnisse aus dem Zwischenbericht haben sich in den letzten Wochen verfestigt.

Die Justizbehörden hätten jene Maßnahmen gesetzt, die in Fällen wie jenem von K. F. üblich sind, heißt es in dem Endbericht. Der Istzustand reicht jedoch offenbar nicht aus: So solle Deradikalisierungsarbeit besser verankert und auch finanziell besser ausgestattet werden, ebenso solle der Strafvollzug besser ausgestattet werden, um bei der Resozialisierung erfolgreich sein zu können. Damit kein Kontakt zwischen radikalisierten Insassen und gefährdeten Personen außerhalb entstehen kann, sei der Vollzug auf Informationen seitens der Sicherheitsbehörden angewiesen.

Die bessere finanzielle Ausstattung der Deradikalisierungsexperten von "Derad" solle zu Professionalisierung der Organisation führen. Zudem solle eine Sicherheitsüberprüfung der eingesetzten Deradikalisierungsmitarbeiter eingeführt werden.

Bereits im Zuge der Veröffentlichung des Zwischenberichts wurde festgehalten, dass es keinen Bedarf an gesetzlichen Verschärfungen gebe. Nun heißt es noch deutlicher: Der geplante Tatbestand des religiös motivierten Extremismus sei "einerseits überflüssig und andererseits verfassungsrechtlich bedenklich". Die angedachte Unterbringung terroristischer Straftäter im Maßnahmenvollzug sei ebenfalls nicht angebracht.

Festgehalten wird zudem: Die bedingte Entlassung von K. F. sei gesetzmäßig und sinnvoll gewesen. Es bestehe kein Anlass, die Regelungen hier zu verschärfen. Das Problem liegt offenbar vielmehr darin, dass zwar Informationen vorliegen, diese aber nicht geteilt werden. Die Kommission empfiehlt daher dringend die Einführung sogenannter Fallkonferenzen, bei denen sich Sicherheitsbehörden, Bewährungshelfer und Deradikalisierungsmitarbeiter über die Entwicklung der betreffenden Person austauschen. Solche sollen künftig eingeführt werden, hieß es seitens des Innenministeriums am Mittwoch.

Kritik an Datenverarbeitung

Mit noch größerer Spannung wurden die Ergebnisse erwartet, die das Innenministerium betreffen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und dem Wiener Landesamt (LVT Wien) sei "defizitär", sagt Zerbes zum STANDARD. Die Atmosphäre sei "geradezu zerrüttet", es bestünden Vorbehalte, Informationen auszutauschen. Entsprechende Erkenntnisse lieferte schon der Zwischenbericht: So wurden zum Beispiel Bilder, die das BVT über den versuchten Munitionskauf in der Slowakei durch K. F. vorliegen hatte, dem LVT erst einen Monat später vorgelegt.

Gezeigt habe sich nun auch, dass die Datenverarbeitung nicht funktionierte. Als eines der Hauptprobleme in der staatspolizeilichen Arbeit sieht die Untersuchungskommission die Art und Weise, wie Daten gespeichert und (nicht) miteinander verknüpft werden. Prinzipiell werden Informationen im "Elektronischen Daten-Informationssystem" (EDIS) gespeichert. Allerdings gibt es hier zehn verschiedene Datenbanken: eine für jedes Landesamt für Verfassungsschutz, eine für das Bundesamt. Das BVT kann nicht auf Daten des Wiener LVT zugreifen, ebenso wenig wie Vorarlberg auf Daten aus Oberösterreich.

Um die Daten in irgendeiner Art und Weise bundesweit abrufbar zu machen, gibt es die Datenanwendung Standat. Dort steht aber nur, dass eine bestimmte Information vorhanden ist – die Information "liegt" aber nur im EDIS abrufbar bereit. Laut U-Kommission erleben Verfassungsschützer Standat als "unzuverlässig" und "inaktuell". Deshalb wird darauf nur selten zurückgegriffen. Der erste Standat-Eintrag über den Terroristen K. F. erfolgte erst nach dem Attentat in Wien. Das sei ein "erstaunlicher Mangel dieses Falls" gewesen, sagt Zerbes. Die Untersuchungskommission fasst die Erkenntnisse lakonisch zusammen: Es herrsche nicht das Prinzip "need to share", sondern "need to know (must not share)".

Damit würde das enorme Misstrauen, das zwischen den Dienststellen herrsche, Hand in Hand gehen. Eine Rolle spiele in dem Zusammenhang auch die damalige BVT-Razzia. Gezeigt habe sich jedenfalls, so Zerbes, eines: "Es besteht kein Bedarf nach neuen Strafgesetzen, sondern an weniger populären Maßnahmen wie dem Aufbau einer vernünftigen Datenbank sowie dem Aufbau von gegenseitigem Vertrauen." Der Fall habe jedenfalls gezeigt, dass es "durchaus funktionierende Elemente", aber auch "erhebliche Mängel der Bekämpfung terroristischer Straftaten" gebe.

Reaktion von Nehammer

K. F. war als verurteilter und aus der Haft entlassener Terrorist den Behörden bekannt. Erst zehn Monate nach seiner Haftentlassung (und damit kurze Zeit vor dem Anschlag) kam es zu einer ersten Risikobewertung des späteren Attentäters. Das ging bereits aus dem Zwischenbericht hervor. Nun hält die Kommission noch einmal eindeutig fest: In der Zwischenzeit wurden von K. F. Aktionen gesetzt, die augenfällig waren – darunter seine Teilnahme an einem internationalen Islamistentreffen in Wien, das von Verfassungsschützern sogar observiert wurde, und sein kurz danach versuchter Kauf von für Militärwaffen geeigneter Munition. Keiner der Sachverhalte wurde an die Staatsanwaltschaft gemeldet.

In einer Pressekonferenz reagierte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) Mittwochnachmittag auf die Ergebnisse der Kommission. "Es ist ununmgänglich, dass die Reform des Verfassungsschutzes massiv vorangetrieben wird. Derzeit befinden wir uns in finaler Abstimmung mit dem Koalitionspartner", sagte er. Der Verfassungsschutz solle "komplett neu gebaut werden." Eine zügige Reform des BVT, die schon länger angekündigt ist, wurde auch von der Kommission angeraten.

Im Zuge der Reform soll es zu einer parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes kommen, sagte Nehammer. Weiters: Das Gefährdermangement solle besser aufgestellt werden. Auch das Datenbanksystem solle vereinheitlicht werden. Es solle aber nicht dazu kommen, dass "alle alles wissen." Zudem solle der Verfassungsschutz mit deutlich mehr Personal ausgestattet werden – es solle zu einer Verdopplung kommen – und, wie schon bekannt, in jeweils eine Säule Staatsschutz und eine Säule Nachrichtendienst getrennt werden. In einem gemeinsamen "professionellen Lage- und Informationszentrum" soll das ganze verbunden werden, hieß es.

Fehlende Berichte

Die Kommission wollte außerdem rekonstruieren, wie die Meldungskultur entsprechender Erkenntnisse über den Attentäter und sein Netzwerk an die Weisungsspitze, also bis zum Generaldirektor für öffentliche Sicherheit und dem Innenminister, verlaufen ist. Dabei stieß die Kommission jedoch auf Hindernisse, wie Zerbes sagt: So habe es gewisse "Informationsgrenzen" gegeben.

Der Kommission forderte bestimmte Lageberichte zum Themenbereich Extremismus und Islamismus an. Speziell interessiert hätten die Kommission operative Berichte aus dem Zeitraum Juli bis Oktober 2020, da sich in dieser Zeit der Attentäter radikalisierte. In solchen Berichten werden konkrete Verdachtsmomente, die in Bezug auf einzelne Gefährder existieren, aufgelistet. Ein solcher läge nicht vor, hieß es aus dem Innenministerium.

Die Kommission fragte deshalb im Innenministerium nach, ob also davon auszugehen sei, dass der Generaldirektor über keine detaillierten Informationen für den Themenbereich und besagten Zeitraum verfügte. Die Antwort, die zurückkam, bezog sich nur auf den konkreten Fall von K. F: Und da habe es weder Informationen über die Observierung (des Islamistentreffens) noch solche über den versuchten Munitionskauf gegeben, "da es sich hier immer nur um Teilinformationen (…), aber kein abgeschlossenens Ermittlungsergebnis handelte". Auch ein entsprechender Bericht über sogenannte "Foreign Terrorist Fighters", zu denen K. F. wegen seiner versuchten Ausreise zählte, lag laut Innenministerium für diesen Zeitraum nicht vor – für das Jahr 2019 allerdings schon.

"Aus dieser Aussage ergibt sich, dass der Informationsfluss vom BVT an den HGD (Generaldirektor, Anm.) von 2019 auf 2020 deutlich verdünnt worden sein muss, obwohl das Phänomen der 'Foreign Terrorist Fighter' und die von diesen ausgehenden Gefahren in diesem Zeitraum keineswegs zurückgegangen sind", schlussfolgert die Kommission. Und weiter: "Insgesamt konnte der Informationsfluss vom BVT zum vorgesetzten Generaldirektor so nicht vollständig nachvollzogen werden. Das, was der Kommission darüber preisgegeben wurde, erscheint verbesserungswürdig, wobei hier die jeweiligen Behördenleiter in besonderer Verantwortung stehen."

Nur strategische Infos

Nehammer stritt ab, dass es für die Kommission Hindernisse bei der Arbeit gegeben habe: "Es wäre vollkommen widersinnig, eine Kommission einzurichten, wo ich dann im Innenministerium Barrieren aufbaue. Es gab die Anweisung, jede Info zur Verfügung zu stellen." Er verneinte zudem die Frage danach, ob die Spitzen über die Gefährdungseinschätzung informiert gewesen seien: "Es hat keinen Sinn wenn der Generaldirektor oder ich in jedes Detail einer laufenden Operation eingebunden werden."

Der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, sagte, ihm sei Ende Oktober ein strategisches Lagebild im Bereich islamistischer Terrorismus vorgelegt worden. Darin seien aber keine personen- oder fallbezogenen Daten ersichtlich gewesen. Über den Munitionskauf oder das Islamistentreffen habe man keine Informationen erhalten. (Vanessa Gaigg, Fabian Schmid, 10.2.2021)