Sind zwei Corona-Leugner-Demonstrationen in Wien innerhalb weniger Wochen, mit einmal 10.000, dann 20.000 Teilnehmern, mit zunehmender Aggressivität, ein Zeichen für eine beginnende Radikalisierung in Österreich?

Wenn man auf die Dynamik solcher Proteste in anderen Ländern schaut, etwa Frankreich, dann nicht. Die Aufmärsche fielen zahlenmäßig relativ beeindruckend aus, weil Teilnehmer mit Bussen herangekarrt wurden und weil eine Parlamentspartei, die FPÖ, zur Teilnahme mobilisiert hatte. Es gab keinen Schneeballeffekt, keinen spontanen Zustrom zur Demo.

In Wien fanden zwei Corona-Leugner-Demonstrationen innerhalb weniger Wochen statt.
Foto: imago/Volker Preußer

Die politische Mitte, das gesamtgesellschaftliche Klima der Mäßigung, der demokratische Konsens, ist noch nicht in Gefahr. Dennoch gibt es ein gefährliches Potenzial. Die Proteste wurden von Rechtsextremen, Neonazis und verschwörungstheoretisierenden Demokratiefeinden unterwandert und im Grunde organisiert. Die FPÖ unter ihrem Einpeitscher Herbert Kickl, mit Goebbels-Tremolo in seinem rednerischen Duktus, setzt klar auf eine Radikalisierung. Gewaltbereite Mitglieder von Fußballklubs marschierten vorneweg. Relativ viele "normale Bürger" glauben, ihrem Protest gegen die Corona-Maßnahmen nicht anders Stimme verleihen zu können.

Untergrundnetz

Die wahre Gefahr liegt in dem verwirrenden, vielfältigen, aber oft professionell aufgezogenen Untergrundnetz organisierter Impfgegner, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Hassposter, Youtube-Schwurbler und Debattenzerstörer, die einen beträchtlichen Einfluss ausüben. Das trifft auf eine Stimmungslage in der Bevölkerung, die von Überdruss und Enttäuschung bezüglich der Corona-Politik gekennzeichnet ist, aber vorläufig noch "hält". Allerdings ist nicht nur die Politikzufriedenheit im Abnehmen begriffen, sondern auch die Demokratiezufriedenheit. Das Vertrauen ist im Sinken, und das birgt doch Gefahren, die man nicht bagatellisieren sollte. Der Kampf um die Mitte ist in Ansätzen bereits im Gang.

Österreich war in der Nachkriegszeit einige Male politisch tief gespalten, wobei es jedes Mal um eine Grundbefindlichkeit ging. Die tiefste Spaltung war in den Waldheim-Jahren, als eine Mehrheit zunächst nicht einsehen wollte, dass ein Angehöriger der Kriegsgeneration, der über seine Rolle im Krieg gelogen hatte, nicht als Bundespräsident geeignet war. Im Laufe der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass Kurt Waldheim die falsche Wahl war.

Eine ähnliche Spaltung ereignete sich bei der ersten schwarz-blauen Koalition Schüssel/Haider und hätte sich bei der von Sebastian Kurz geschlossenen zweiten Koalition mit der FPÖ vertieft, wenn ihm sein extrem rechter Partner nicht abhandengekommen wäre und er jetzt mit den Grünen regieren müsste. Kurz selbst polarisiert inzwischen ziemlich stark, aber er hat noch genügend Rückhalt.

Die Bevölkerung spielt einstweilen noch mit. Wenn allerdings die wirtschaftlichen Folgen der Krise wirklich spürbar werden, wenn die Arbeitslosen auf die Straße gehen, wenn auch die mittelständische Wirtschaft rebelliert, dann hat einerseits die FPÖ wieder eine Chance und ist andererseits der soziale Friede durch neue, radikale Gruppen gefährdet. Das kann schneller gehen, als man glaubt. (Hans Rauscher, 9.3.2021)