Dem Charme des Analogen erliegen: Gerade weil es anstrengender ist (und war), aber weil es eben deshalb mehr Spaß macht. Selbst so etwas vordergründig Sinnloses wie das Basteln eines Pfeils.

Foto: Lukas Friesenbichler

Mit einem dumpfen Knall durchschlägt die Pfeilspitze die Bananenkiste, die der Opa dem Enkel als Zielscheibe gebastelt und an einem Ast des Zwetschenbaums befestigt hat. Ein Erfolgserlebnis, langsam hat der Bub den Dreh raus. Der Papa steht stolz daneben: Es ist nämlich gar nicht so einfach, einen "Steinzeitpfeil" selbst zu basteln.

Ein gefälliger Haselnussstecken für den Schaft war schnell gefunden. Die Suche nach einem geeigneten Stein für die Spitze gestaltete sich schwieriger. Feuerstein eignet sich angeblich am besten. Aber wie schaut der aus? Die Alternative war ein Stein, der sich einfach gut aufsplittern ließ. Bearbeitet mit einer Feile, glich er bald der Spitze eines prähistorischen Flitzes – oder wie man sich eben vorstellt, dass so ein Ding ausgesehen haben muss.

Auf die Spitze

Zugegeben, die Steinzeitmenschen hatten kein Patex, kein Isolierband zur Verfügung. Weder zur Befestigung der Steinspitze noch zur Befestigung der Federn. Letzteres eine weitere Herausforderung: Wo bekommt man Federn her?

In irgendeinem Ladl lag dann doch noch eine herum, sie wurde zerteilt, angeklebt und, voilà, 24 Stunden später war er einsatzbereit, der gefiederte "Steinzeitpfeil". Ein durchschlagender Erfolg, wie ein weiteres dumpfes Geräusch bestätigt. Haut besser hin als eine Diamantspitzhacke in "Minecraft", oder? Da muss selbst das Kind grinsen.

Auf Speed

Aber warum das Ganze? Mit zwei Klicks hätte man auf Amazon ein ganzes Pfeil-und-Bogen-Set bestellen können, 48 Stunden später wäre das Packerl vor der Tür gestanden. Die Geräte wären makellos gewesen, der Vorgang selbst mühelos, "instant satisfaction" quasi, wie man es eben gewohnt ist. Aber hätte es auch die gleiche Freude gebracht? Denselben Wert vermittelt?

Seit wir kollektiv durch Lockdowns, mal hart, mal soft, in unserer Reisefreiheit eingeschränkt, vieler realer Erlebnisse und sozialer Kontakte beraubt sind und größtenteils im Homeoffice hocken, scheint es, dass sich die Digitalisierung unseres Lebens noch stärker bemächtigt.

Auf verlorenem Posten

Die Feststellung des Politikwissenschafters und Autors Andre Wilkens, "Digital ist wie die Industrielle Revolution, aber auf Speed", gilt nach wie vor. Sie hat durch die Pandemie noch einen Gang höher geschaltet und eine ganz neue Qualität erreicht. Während die Industrielle Revolution 200 Jahre brauchte, um ihre volle Wirkung zu entfalten, gelang dies der Digitalen Revolution innerhalb von 25 bis 30 Jahren, resümiert Wilkens.

Er drückt in seinem Buch "Analog ist das neue Bio" von 2017 vor dem Hintergrund der Enthüllungen von Edward Snowden sein Unbehagen über so manche Auswüchse dieser Entwicklung aus. Das ist auch beunruhigend, aber: Ohne die Möglichkeiten der Remote-Arbeit, des Onlineshoppings, der Kommunikation via Zoom & Co oder des Distance-Learning stünden wir momentan ganz schön verloren da.

Auf Entzug

Und doch machte sich in den letzten Monaten verstärkt eine Sehnsucht nach analogen Dingen und Erfahrungen breit. So mancher Feuilletonist beschäftigte sich mit der exponentiellen Zunahme von Hobbybäckern in Stadt und Land und bei Jung und Alt: Brotbacken als kollektives Lockdown-Hobby. Einhergehend mit der gemeinsamen Erfahrung, dass die Herstellung eines Grundnahrungsmittels nicht so banal ist, wie man sich das möglicherweise vorgestellt hat.

Auch wurde verwundert festgestellt, das Puzzles und Brettspiele wieder regen Zuspruch erhielten. Tatsächlich wächst der Markt für Brettspiele weltweit, stärker als der Gesamtmarkt für Spielwaren, liest man. Das erstaunt: Hätte man doch annehmen können, dass Tischspiele wie "Monopoly," "Activity", und wie sie alle heißen, Schnee von gestern sind. Videospiele schienen in ihrem Siegeszug unaufhaltsam zu sein.

Neue Bedeutung

Dabei ist das Phänomen nicht neu. Schon in den vergangenen Jahren konnten Brettspiele ein solides Wachstum verzeichnen, weil viele Haushalte einen "digitalen Entzug" anstreben und weniger Zeit mit Smartphones und Videospielen zubringen wollen.

"Tischspiele florieren sowohl bei den Verkaufszahlen als auch in ihrer kulturellen Bedeutung, und dies eben genau wegen ihrer von Natur aus analogen Art und der einzigartigen sozialen Bedürfnisse, die sie in unserem Leben befriedigen", stellte David Sax in seinem 2017 erschienenen Buch "The Revenge of Analog: Real Things and Why They Matter" fest.

Cool und sexy

Die Lockdown-Maßnahmen haben diese Entwicklung in den traditionellen Spielemärkten verstärkt. Selbst dort, wo sie zuvor keinen guten Stand hatten, heißt es in einem aktuellen Befund. Kinder wechseln zwar immer früher in die digitale Spielwelt, kommen aber im Teenageralter wieder zu den Klassikern zurück, weil diese dann als cool und sexy gelten.

Das konnte auch David Sax erfahren, als der Kanadier in Toronto unterwegs war und sich über die langen Schlangen von Menschen jeden Alters vor gerade frisch eröffneten Spielecafés wunderte. Er beschreibt in seinem Werk das Comeback des Dinglichen, wie etwa der guten alten Schallplatte aus Vinyl, ur-analogen Notizbüchern (Moleskine) oder der analogen Fotografie (Lomo, Polaroid).

Auch die leiernde Rückkehr der Musikkassette reiht sich hier ein: So verkauft etwa die US-amerikanische Modekette Urban Outfitters wieder MCs und hat dazu vor wenigen Wochen auch ein entsprechendes Abspielgerät vorgestellt – mit der Erweiterung um eine Bluetooth-Schnittstelle.

Nostalgiereflex

"Aber ist das alles nichts weiter als ein Nostalgiereflex?", fragt sich Matthias Horx. Der Zukunftsforscher gibt sich die Antwort selbst: "Nein." Denn die Geschichte krümme sich immer wieder ins Bewährte. Der wahre Grund sei unsere Sehnsucht nach Signifikanz, die in einer digitalen Umwelt übermächtig wird. Wenn alles unendlich kopier- und verfügbar ist, wird das Einmalige, Spezifische, Anfassbare zum neuen Luxus.

Er spricht auch von einer "Spotyflix-Fatigue": Wenn man alle Werke der Welt, sei es auf Spotify oder Netflix, permanent zur Verfügung hat, entsteht irgendwann eine innere Leere. Alles ist möglich, nichts mehr wichtig. Ein klarer Nachteil der "instant satisfaction". "Jene Verlässlichkeit, die in der ständigen Ambiguität des digitalen Raums verloren geht, suchen wir im Anfassen eines garantiert nicht digitalisierbaren handgebackenen Brotlaibes", resümierte Horx 2019, als die Welt aus heutiger Sicht noch "in Ordnung" war.

Auf der Hand

Wie sich die Folgen der Pandemie letztendlich auswirken, ob wir nun in ein "postdigitales Zeitalter" eintreten oder sich die Digitale Revolution noch einmal dramatisch beschleunigt, ist schwer absehbar. Fest steht, dass die reale Welt wichtig ist, jetzt mehr als je zuvor. Deshalb lautet das Motto: Genießt mehr Analoges! Gerade weil es anstrengender ist (und war), aber weil es eben deshalb mehr Spaß macht. Selbst so etwas vordergründig Sinnloses wie das Basteln eines Pfeils.

Selbstgemacht, bei weitem nicht perfekt, herrlich analog: Die Finger gleiten an dem glatten Holz entlang, befühlen die Spitze, die Federn. Es kommt einem Otl Aicher in den Sinn. Für den Industriedesigner war die Hand das wichtigste Wahrnehmungsorgan. Sie leiste mehr als das reine Ertasten und Begreifen von Gegenständen. Die Wahrnehmung durch die Hand sei die Voraussetzung für einen sich frei entfaltenden Geist.

Riecht seltsam, schmeckt komisch

Das kann auch schmerzhaft sein: Den linken Daumen ziert ein Pflaster, er hat während der Bastelei Bekanntschaft mit der scharfen Klinge des Taschenmessers gemacht. Aber so ist sie eben, die reale Welt. Sie tut manchmal weh, riecht seltsam, schmeckt komisch und "entblößt menschliche Unvollkommenheit" (Sax). Kein Tastaturkürzel kann einen Fehler rückgängig oder eine Schnittwunde ungeschehen machen – und eine echte Feder findet man nicht im Drop-down-Menü. (Markus Böhm, RONDO Exklusiv, 15.4.2021)