Der vom Gesundheitsministerium vorgelegte Entwurf des Epidemiegesetzes und des Corona-Maßnahmen-Gesetzes hat zu einer Welle von fast 40.000 Stellungnahmen, unter anderem von Juristinnen und Juristen, geführt. Viele der in dem Entwurf enthaltenen Punkte werden scharf kritisiert. So wird der Eingriff ins Private, in die Grund- und Freiheitsrechte, als verfassungsrechtlich bedenklich charakterisiert. Speziell sind Erleichterungen beim Verhängen von Ausgangsbeschränkungen, aber auch die geplante Klassifizierung von Treffen zwischen vier Personen aus zwei Haushalten als Veranstaltung höchst problematisch. Dies würde schließlich bedeuten, dass solche Zusammenkünfte anmeldungs- und bewilligungspflichtig werden könnten. Wer sich also mit drei Freunden, Bekannten oder Verwandten treffen möchte, müsste in Zukunft angeben, wo, wann, mit wem und wieso er sich mit diesen Menschen verabredet.

Nun ist es bereits so, dass gewisse Grund- und Freiheitsrechte zum Schutz der Gemeinschaft eingeschränkt werden können. In Würdigung jener grundlegenden Rechte muss jede Einschränkung jedoch das letzte Mittel darstellen und zweck- und verhältnismäßig sein. Doch auch dieser wichtige Grundsatz zum Schutz unserer Freiheitsrechte wird in dem Entwurf aufgeweicht. So sollen in Zukunft Ausgangsbeschränkungen nicht nur bei einem drohenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhängt werden können, sondern auch, um die Ausbreitung eines Virus zu verhindern. Mögliche mildere Maßnahmen, also solche, die unsere grundlegenden Rechte nicht beschneiden, müssen im neuen Entwurf erst gar nicht ausgeschöpft werden. Der neue Entwurf lässt also unsere grundlegenden Rechte erodieren.

All jenen, die solchen Eingriffen nicht kritisch gegenüberstehen, sei gesagt, dass Grundrechte keine Schönwetterrechte sind. Sie stellen in ihrem historischen Kern Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat dar. Sie sind unser rechtliches Schutzschild gegenüber Autoritarismus und staatlicher Willkür. Grundrechte sind somit eine bedeutende Instanz unserer liberalen Gesellschaft. Genauso verhält es sich jedoch auch mit dem Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit der Gemeinschaft. Da ein Virus jedoch nicht zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen unterscheidet, droht einer dieser beiden Pole, etwa Bewegungs- und Versammlungsfreiheit oder öffentliche Gesundheit, in der Pandemie aufgerieben zu werden. Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden, die Entscheidung ist jedoch nicht bloß für unser Gesundheitssystem, sondern für unsere gesamte Gesellschaft richtungsweisend.

Unverzichtbare Normen als Tragic Choice

Unter dem Titel "Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?" hielt Niklas Luhmann 1992 einen Vortrag an der Universität Heidelberg. Dabei näherte sich Luhmann der Beantwortung der Frage mittels Gedankenspiel, dem sogenannten Ticking-Bomb-Szenario. In diesem Gedankenspiel aus der Rechtsphilosophie bedroht eine Bombe eine ganze Stadt. Nur der bereits gefasste Täter kann über das Versteck der Bombe Auskunft geben und unzählige Unschuldige retten. Da er jedoch nicht freiwillig dazu bereit ist, wird in dieser Überlegung die Aufweichung des bedingungslosen Folterverbots angedacht, um die Bürger und Bürgerinnen einer ganzen Stadt zu retten. Luhmann selbst konnte unverzichtbare Normen, auch die des bedingungslosen Folterverbots, in diesem Gedankenspiel nicht erkennen, da es zulasten unzähliger unschuldiger Opfer gehen würde.

Unbefriedigt von Luhmanns Antwort hielt der Jurist Ralf Poscher in einem 2004 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter dem Titel "Menschenwürde als Tabu" erschienenen Aufsatz fest, dass jegliche Aufweichung dieses Grundrechts und des Schutzes vor Misshandlung und Folter gesellschaftszersetzende Tendenzen sowie exzessive Interpretationen mit sich bringen würde.

Die Corona-Maßnahmen greifen tief in unsere Grundrechte ein.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Die Tragic Choice löst Poscher auf, indem er argumentiert, dass die Welt in diesem Gedankenspiel nicht mehr im Rahmen des Rechts gerettet werden kann, sondern nur noch von jemandem, der bereit ist, das Recht zu brechen, und dafür die Konsequenzen zu tragen hat. Die Welt würde gerettet, das bedingungslose Folterverbot aufrechterhalten und der tragische Held müsste sich für seine Straftat verantworten. Genau die drohende Strafe für den Retter ist es, die das Folterverbot aufrechterhält und sicherstellt, dass dieses nur in extremen Fällen gebrochen werden würde.

Im ersten Moment scheint dieses Gedankenspiel wenig mit unserer neuen Realität der Pandemie zu tun zu haben. Doch auch hier kreist die Diskussion um zwei schützenswerte Pole: den Schutz eines Grundrechts in Form des Folterverbots auf der einen Seite und den Schutz der Gemeinschaft auf der anderen. Die sogenannte Tragic Choice besteht darin, dass der Fokus auf einen dieser Pole immer zulasten des anderen geht.

Die Pandemie als tickende Bombe

Die tickende Bombe ist heute das Virus selbst, das, sollte es zu keinen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit kommen, das Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses bringen und damit Menschenleben fordern könnte. Auf der anderen Seite stehen Grund- und Freiheitsrechte als Garant für eine liberale Gesellschaft und als rechtliches Schild gegen Autoritarismus und Überwachungsstaat auf dem Spiel. Gesellschaft sowie Entscheidungstragende stehen somit vor der eigenen Tragic Choice.

Es wäre eine Überlegung wert, sich unseren aktuellen Herausforderungen ähnlich zu nähern. Konkret würde dies ein bedingungsloses Aufrechterhalten unserer schwer erkämpften Grund- und Freiheitsrechte bedeuten – und dies auch im Lichte eines drohenden Kollapses unseres Gesundheitssystems. Sollte dieser jedoch wirklich bald bevorstehen, müssten sich österreichische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen "opfern", kurzzeitig Grund- und Freiheitsrechte einzuschränken, und sich schließlich für diesen Rechtsbruch verantworten. Dies würde nicht nur der Rolle von Entscheidungstragenden als Staatsdiener entsprechen, sondern auch garantieren, dass diese Einschränkungen letztes Mittel zur Eindämmung der Pandemie sind. (Constantin Lager, 23.3.2021)