Der österreichische Bundeskanzler sorgt in Europa – wieder einmal – für viel Gesprächsstoff. Das war schon vor dem EU-Gipfel so, als er gemeinsam mit fünf ost- und ostmitteleuropäischen Staaten in einem Brief an EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine Korrektur bei der realen Verteilung von Impfstoff gefordert hatte – auch zugunsten Österreichs. Und das ist auch nach dem gestrigen Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs per Videokonferenz so.

Sebastian Kurz sorgt für viel Debattenstoff in Europa.
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"Sebastian Kurz hat sich verzockt", bilanziert der deutsche "Spiegel" nach dem Riesenstreit beim Gipfel. Der Kanzler habe stundenlang blockiert, aber nicht bekommen, was er wollte. Genau das Gegenteil konstatiert die ebenfalls deutsche Zeitung "Die Welt": "Wie Kurz Merkel beim Impfstoff ausgekontert hat", titelt sie, und schildert, wie die deutsche Kanzlerin am Ende doch noch einem solidarischen Ausgleich zugunsten der Impfstoff-Nachzügler zustimmte.

Alles eine Frage des Betrachtungswinkels

Und, was gilt jetzt? Je nach Betrachtungsweise wohl beides – zumindest vorläufig. Sicher scheint: Der österreichische Kanzler polarisiert, emotionalisiert. Seine Gegner sehen ihn nur als oberflächlichen Emporkömmling, der in Wahrheit "kein Pro-Europäer sei". Seine Fans meinen hingegen, er bewege etwas im gemeinsamen Europa.

Was ist also passiert in den vergangenen drei Wochen auf dem EU-Kampfplatz um Impfstoffe? Was will nun der EU-Gipfel? Weil sie beim Einkauf im vergangenen Herbst Fehler machten, sind vor allem Bulgarien, Kroatien und Lettland beim Impfen der Bevölkerung stark ins Hintertreffen geraten, verglichen mit Dänemark, den Niederlanden und Deutschland. Die hatten alles aufgekauft, was verfügbar war, weil andere Staaten es in Brüssel nicht abnahmen.

Österreich steht im Moment ganz gut da, im Mittelfeld, wird aber im Verlauf des zweiten Quartals Probleme bekommen, weil die Regierung vom vierten Impfstoff von Johnson & Johnson nur 60 Prozent der möglichen Gesamtmenge gekauft hat.

Auch Österreich fehlen Impfdosen

Kurz gesagt: Bis zum Sommer werden auch in Österreich nach bisherigen Berechnungen einige hunderttausend Impfdosen fehlen, um das gemeinsame EU-Ziel einer Immunisierung von 70 Prozent der erwachsenen Bürger zu erreichen.

Das war der eigentliche innenpolitische Grund, warum der Kanzler seine Initiative gestartet hatte – diesen Aspekt erwähnte er aber nicht. Stattdessen schob er einem angeblichen "EU-Basar" in Brüssel die Schuld zu.

Von der Sache her hatte er freilich recht, wie auch Ursula von der Leyen bald einräumte. Es wäre fatal, wenn das gemeinsame Europa sich beim Verimpfen hart in West und Ost teilen würde. Russland und China haben bereits begonnen, in Europa mit Impfstoff "auszuhelfen".

Deshalb hat die Kommission den Korrekturmechanismus mit zehn Millionen vorgezogenen Biontech/Pfizer-Impfdosen vorgeschlagen. Womit sie nicht rechnete? Die Regierungschefs von Dänemark, Niederlande und Deutschland lehnten es brüsk ab, von "ihrem" Impfkontingent, das sie gekauft hatten, etwas für die Nachzügler abzugeben. Aber das wiederum hängten Angela Merkel, Mark Rutte und Mette Frederiksen nicht an die große Glocke.

Gipfel der Gegensätze

Beim Gipfel prallten die Gegensätze aufeinander. Fünf Stunden lang wurde gestritten. Vor allem die Osteuropäer drängten auf einen stärkeren Ausgleich, wollten, dass die zehn Millionen vor allem auf sie verteilt werden. Österreich mit Kurz will davon auch profitieren, wenn die Verteilungszahlen neu gerechnet werden.

Am Ende einigte man sich auf eine gesichtswahrende Lösung für alle. Man bekannte sich zum Ziel, dass alle Staaten gleich viel bekommen, will die Schieflagen "solidarisch" lösen. Aber darum sollen sich jetzt die EU-Botschafter in Brüssel kümmern. Sie sollen ausschnapsen, wer wie viel bekommt – nicht mehr der berüchtigte Lenkungsausschuss der Gesundheitsminister. Ausgang: ungewiss. Fortsetzung folgt. Sebastian Kurz wird in Europa ein Thema bleiben – allein das ist fix. (Thomas Mayer, 26.3.2021)