Literarisch viel gewagt und gewonnen: Natalka Sniadanko.

Foto: Haymon Verlag / Kateryna Slipchenko

Der Erzherzog, von dem hier erzählt wird, ist historisch verbrieft: Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen, geboren 1895 als jüngster Sohn des k. u. k. Admirals Erzherzog Karl Stephan. Wilhelm wird standesgemäß erzogen, Privatunterricht im väterlichen Schloss in der galizischen Kleinstadt Saybusch, polnisch Żywiec, Sommeraufenthalte in Pola, dem heutigen Pula, zahlreiche Reisen, Ausbildung zum Offizier, wie es einem Habsburger geziemt.

Schon der Vater schlägt aus der Art, indem er sich und seine Familie polonisiert, wohl in der Hoffnung, im 1918 wiedererstandenen Polen zum König gekrönt zu werden. Wilhelm geht noch weiter und schenkt seine Sympathien den Ukrainern, damals Ruthenen genannt, die ihre nationale Unabhängigkeit anstreben.

Auch Wilhelm hat eine Krone zum Ziel: Er träumt davon, in einer unabhängigen Ukraine den Thron zu besteigen. Als Zeichen der Solidarität mit "seinem Volk" trägt Wilhelm im Weltkrieg unter seiner österreichischen Uniform bestickte ukrainische Hemden, was ihm den Beinamen Wassyl Wyschywanyi, Wassyl der Bestickte, einträgt.

Das ist nicht die einzige Sonderlichkeit, die den Habsburger auszeichnet. Er führt ein ausschweifendes, ja skandalöses Leben, verkehrt in anrüchigen Spelunken, zeigt offen seine Vorliebe für junge Männer, bevorzugt tätowierte Matrosen, und schert sich auch sonst wenig um seinen Ruf.

So weit ist alles geschichtlich belegt, wie wir von Wilhelms Biografie des amerikanischen Historikers Timothy Snyder wissen, die 2009 unter dem Titel Der König der Ukraine. Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg in deutscher Übersetzung erschien.

Leichtfertiger Lebemann

Es ist anzunehmen, dass sich Natalka Sniadanko, was die Fakten angeht, auf Snyders gründlich recherchiertes Werk stützt, doch sie wählt eine eigene, eigenwillige Perspektive, denn sie führt als Erzählerin eine fiktive ukrainische Enkelin Wilhelms, Halyna, ein, die mit dem blaublütigen Großvater in Lemberg, ukrainisch Lwiw, lebt.

Der historische Wilhelm kommt 1948 in einem sowjetischen Gefängnis elend zu Tode, doch die Autorin lässt ihn gnädig weiterleben, lange genug, um der 1969 geborenen Enkelin sein Leben erzählen zu können.

Von der unbeschwerten Kindheit und Jugend eines Erzherzogs, aber auch von seinen zahlreichen Eskapaden, den ständigen Geldnöten, die ihn schließlich in die Arme einer französischen Kurtisane treiben, von der der leichtfertige Lebemann als Strohmann für groß angelegte Betrügereien missbraucht und finanziell sowie gesellschaftlich völlig ruiniert wird.

Herz schlägt für die Ukrainer

Als einzige Konstante in diesem unsteten Leben erweist sich die Identifikation mit den Ukrainern, deren Unabhängigkeitskampf er bedingungslos unterstützt, ein treuer Sohn der Ukraine.

Zeitlich siedelt Sniadanko die Geschichte auf verschiedenen Ebenen an. Einmal die frühen Jahre Wilhelms vor 1914, dann der Weltkrieg, in dem er als österreichischer Offizier dient, dessen Herz für die Ukrainer schlägt, die Zwischenkriegszeit, auf Reisen und im damals polnischen Lwów, Lemberg, wo er eine Ukrainerin zur Frau nimmt und sesshaft wird.

Mit großer Sachkenntnis beschreibt die Autorin das Leben der herkunftsmäßig, sprachlich und kulturell bunt gemischten Familie des schrägen Habsburgers, die mühebeladene Existenz unter polnischer, dann sowjetischer, deutscher und wieder sowjetischer Herrschaft, immer gewärtig, von der Willkür der Geschichte zermalmt zu werden.

Ungeahnte Fähigkeiten

Erstaunlicherweise entwickelt ausgerechnet Wilhelm ungeahnte Fähigkeiten, um sich in dieser feindlichen Welt zu behaupten und die Familie über Wasser zu halten. Er reüssiert auf dem Schwarzmarkt und schlüpft geschickt durch das absurde Labyrinth der einander ablösenden Systeme, in dem zahllose Menschen zugrunde gehen.

Ein Vorbild für den späteren Mann Halynas, Hryc, der den Zusammenbruch der Sowjetunion und die schmerzvolle Geburt der unabhängigen Ukraine zunächst als Schmuggler, dann als erfolgreicher Vertreter des neuen Raubritterkapitalismus für sich zu nützen weiß.

Natalka Sniadanko ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen, sie hat viel gewagt – und am Ende gewonnen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte erzählt sie kenntnisreich und liebevoll vom Leben der Menschen in ihrer ukrainischen Heimat: ein wunderbares Buch, das uns die Ukraine und ihre Menschen, ihre Mentalität und ihre Traditionen und auch ihre schmerzliche, bis heute nicht abgeschlossene Identitätssuche besser verstehen lässt.

Noch eines: Die Übersetzung ist vorbildlich, ein wahrer Genuss. Danke, Maria Weissenböck! (Martin Pollack, ALBUM, 2.5.2021)