Lässt Hillary Clinton in der Ich-Form erzählen: Curtis Sittenfeld.

Foto: Josefine Sittenfeld

Was, wenn Hannibal die Römer geschlagen hätte, und zwar vernichtend? Wie hätte dann die Antike ausgesehen? Was, wenn die Südstaaten den Amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen hätten? Wie hätte der Zeiten Lauf ausgesehen, wenn Napoleon die Schlacht von Waterloo für sich entschieden hätte? Oder wenn die Bundesrepublik Deutschland von Honeckers DDR geschluckt worden wäre, und nicht umgekehrt? Oder wenn die Türken 1683 tatsächlich Wien eingenommen hätten, hieße dann die Ringstraße "Ismet Inönü Boulevard" oder "Atatürk Bulvari"?

Was wäre, wenn: Das ist mutmaßlich die zweite große Frage der Fiktion, neben "Es war einmal" ein Kardinalanfang des Erzählens. Was wäre gewesen, wenn eigentlich sich anderes ereignet hätte, das sich nicht mit der tatsächlichen Historie deckt? Alternativgeschichtsschreibung wird so etwas geheißen.

Andere Geschichte

Auch in den letzten Jahren haben Autoren Szenarien der Uchronie, der kontrafaktischen Historie, gesponnen. So ließ 2008 Christian Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Lenin in der Schweiz eine "Schweizer Sowjet Republik" gründen, weil Russland, wie dumm, von einer Explosion verheert wurde. Bei Michael Chabon (Die Vereinigung jiddischer Polizisten, 2007) wurde Alaska zur Heimstatt jüdischer Flüchtlinge, Philip Roth ließ in Verschwörung gegen Amerika (2005) den Antisemiten Charles Lindbergh US-Präsident werden und Éric-Emmanuel Schmitt in Adolf H. Zwei Leben (2001) einen gewissen Hitler, Adolf, Linz, von der Wiener Kunstakademie als Student aufnehmen lassen.

2013 strich Hannes Stein in DerKomet das Attentat auf Franz Ferdinand 1914, das Habsburgerreich blieb weiter bestehen, die wichtigsten Filmateliers der Welt: die Wiener Rosenhügel-Studios, das beliebteste Getränk des Globus: Almdudler.

Am vielleicht erfolgreichsten war vor 30 Jahren der Engländer Robert Harris mit Vaterland, das 1964 in Berlin spielt, nachdem die Nazis den Krieg gewonnen haben und auch über England herrschen (bekanntlich stand Harris auf den Schultern von Len Deighton und dessen SS–GB von 1978; und 30 Jahre vor Harris hatte Philip K. Dick bereits die USA von Nazideutschland und Japan schlagen und gouvernemental unter sich aufteilen lassen).

Die 46-jährige amerikanische Romancière Curtis Sittenfeld schrieb schon 2008 einen lose verschleierten Politik-Schlüsselroman, über die Präsidentengattin Laura Bush (American Wife), nun, in Hillary, lässt sie alle Schleier fallen. Es erzählt in Ich-Form hier nämlich: Hillary Rodham Clinton.

Anderes Leben

Was, wenn diese zwar Bill Clinton kennengelernt, sich in ihn verliebt hätte, mit ihm mit Mitte 20 nach glanzvollstem Jusstudium in Harvard nach Arkansas, in die tiefste Provinz, gezogen wäre, den extrem geselligen, mitreißenden, ja charismatischen, aber hoffnungslos sexbesessenen Jungpolitiker nicht geheiratet – sondern vielmehr verlassen hätte? Und dann selber Karriere gemacht hätte, erst als Professorin an der prestigereichen Northwestern University bei Chicago, ab 1991/92 als Senatorin der Demokratischen Partei in Washington.

Zeitgleich scheitert im Roman Clintons Bewerbung als Präsidentschaftskandidatin jämmerlich an seinem erotischen Johannistrieb, er zieht nach Kalifornien, wird im Silicon Valley Tech-Milliardär, Hillary Rodham wird immer wieder in den US-Senat gewählt, geschätzt für ihre Brillanz, nimmt dreimal Anlauf aufs Weiße Haus und durchbricht 2016 – ihr schärfster, aus dem Nichts kommender und noch immer Testosteron-gesteuerter Parteirivale: Bill Clinton, ihr machiavellistisch angeheuerter Alliierter: der eitle Fant Donald J. Trump! – tatsächlich die gläserne Decke – und wird US-Präsidentin.

Andere Beschreibung

Am erhellendsten, komischsten und auch intellektuell luzidesten ist die Beschreibung der Wahlkampfkampagne 2016, auch weil Sittenfeld hier zahlreiche Dialoge einbaut und zynisch durchwirkte Figuren auftreten lässt. Am schwächsten erscheint dieser leicht eckig übersetzte Roman im überlangen ersten, erotisch durchsprenkelten Drittel. Da ist über endlos viele Seiten hinweg Sittenfelds Prosa matt, glanzlos, umständlich abstrahiert. Weil eben einer per Profession abstrahierenden Juristin in den Mund gelegt.

Und dies ist auch der Konstruktionsmalus des Romans. Denn Sittenfeld fehlen tiefere psychologische Sprachsubtilität und durchdringend empathische Brillanz, um ihre Hillary wirklich nahekommen und sich von den papierenen Seiten erheben zu lassen. (Alexander Kluy, ALBUM, 8.5.2021)