Es gibt einen kleinen Zug, der zweimal am Tag zwischen Villach und Triest verkehrt, manchmal auch nur zwischen Villach und Udine. In den jetzigen pandemischen Zeiten ist es die einzige Verbindung von Österreich nach Italien östlich des Brenners. Der Zug führt zwei Waggons, gelegentlich noch einen dritten für Fahrräder, der leer bleibt, weil derzeit keine Radler unterwegs sind. In der Regel ist der Zug spärlich besetzt, meistens mit Arbeitsmigranten: Männer aus Rumänien, Albanien, Serbien, Türkei, Heimkehrer aus Deutschland oder Österreich nach Sizilien.

Sie reisen mit großen unförmigen Koffern oder vollgestopften Taschen aus Plastikgewebe. Ihre lingua franca ist Italienisch, die Sprache, die sie mit dem Schaffner teilen. Ich nehme den Abendzug und höre die Männer reden, denen der Zug, die Strecke, die Landschaft fremd sind, allesamt reisen sie in anderen Zeiten billig, schnell und ohne Bergblick mit dem Flugzeug, nach Mailand, Turin, Rom oder Catania. Sie wissen nicht, wo sie hier sind, doch egal, woher sie kommen, sie können sich über ihr Befremden verständigen. Sie tauschen sich über die Reiseschwierigkeiten aus, darüber, wer wo lebt, oder arbeitet, die Nicht- Italiener alle in Industriestädten des Nordens, die Sizilianer in Gaststätten hier und da zwischen Wien und München.

Prinzip Hoffnung: die deutsche Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky.
Foto: Heike Steiweg

Bei jeder Haltestelle in den Dörfern des Kanaltals springen sie auf und hoffen wider alle Fahrplanrealität, es sei Udine. Zwischen ihren Gesprächen sind sie mehr mit dem fehlenden Empfang auf ihren Telefonen beschäftigt als mit der Landschaft, die draußen vor den Fenstern ins Dunkel entgleitet. Sie müssen alle in Udine den letzten preiswerten Regionalzug nach Westen erwischen, um vor der Nacht weiterreisen zu können, der späte, komfortable Expresszug nach Rom kommt nicht in Frage, weil er viel zu teuer ist. Meistens ist dieser Tage schon nach der Grenzkontrolle klar, dass sie es zum Zug nicht schaffen werden, der Fahrplan ist auf Reibungslosigkeit eingestellt, auf einen fliegenden Schaffnerwechsel an der Grenze, nicht auf Kontrollen von Covidattesten und Einreiseerklärungen, die alle im neuen Ritual der Echtheitsprüfung gegen das trübe Waggonlicht gehalten werden müssen.

Auch wenn diese Reisenden in den kurzen Mobilfunkphasen immer wieder erfolgslos den Fahrplan auf eine andere Verbindung befragen, sie bleiben angesichts der acht Stunden, die sie – der Lockdownsperrstunde ungeachtet – bis zur Abfahrt des Frühzuges irgendwie im Freien verbringen müssen, relativ gelassen. Niemand scheint nervös während der 80 Minuten, die ich mit ihnen in einem Waggon sitze, sie schicken sich, wie man früher sagte, schon im Zug in die bevorstehende Nacht ohne Obdach. Ich steige eine Station vor Udine aus, ich habe es im Vergleich zu ihnen beschämend gut, hier steht mein Auto, das letzte Stück meiner Reise ist kurz, ein Zuhause erwartet mich. Trotzdem überkommt mich auf der Zugfahrt über die Grenze doch das Gefühl einer Gemeinsamkeit mit diesem halben Dutzend anderer Reisenden im Waggon. Einer Gemeinsamkeit durch Fremde. Unterwegs in einer Sprache, die nicht die eigene ist, unter Bedingungen, die im Schatten der Pandemie auf eine beunruhigende Weise Fremdheit feindlicher bestimmen und ihr die Selbstverständlichkeit nehmen, mit der die reisenden Arbeiter und auch ich selbst seit Jahren leben.

Foto: imago / Jürgen Ritter

Die vergangenen Monate der Schließungen, Sperrungen, Restriktionen verunsichern Grenzgänger, auch wenn sie in besten Absichten reisen und die Atteste und Dokumente lückenlos sind. Doch stets ist man gefasst, unbeholfen in Schranken der Zugehörigkeit gewiesen zu werden, die sich auf Nationalität, auf Herkunft berufen. Die Fremde hat einen neuen Beigeschmack des Bedrohlichen. "Idegen földre ne siess", lautet der Titel eines ungarischen Volkslieds, : Eile nicht in die Fremde! heißt es da, ein Rat, der mir immer verhängnisvoll erschienen ist, doch in pandemischen Zeiten klingt es ganz aktuell und wird allgemein hingenommen. Neu ist es nicht, die Fremde, die Grenzen, die bestimmen wollen, was fremd und was heimisch ist, wer passieren darf und wer nicht, das alles ist geläufig und bekannt, nur die Gründe haben sich verschoben und die Bedingungen verschärft.

Ungeachtet meines zweifellos privilegierten Lebens, in dem ich immer die Freiheit hatte, Grenzen zu überqueren und Fremde zu erkunden, ohne von einer Not dazu gezwungen zu sein, haben mich Fragen der Fremde, ihrer unsteten Definitionen und ihrer so unterschiedlich bewerteten Rolle im kollektiven und individuellen Leben beschäftigt, solange ich denken kann. Vielleicht hat es etwas mit dem Reiz des Wortes fremd just in der deutschen Spache zu tun, vielleicht mit einer vage empfundenen, lange nicht recht benennbaren Empfindung der Unzugehörigkeit in Kindheit und Jugend, die im Ausdruck des "Fremdseins" doch immerhin einen wohlklingend tauglichen Namen hatte.

Fremd und Fremde sind schöne Worte, wie ich finde, sie sind verwandt mit dem englischen "from", von anderem Ort herkommen, überhaupt von irgendwo, "from somewhere" herkommen. In dieser Fremde liegt Geheimnis und Offenheit, wenn man will, sie bestimmt das Wie weniger als das "Nicht-So", Fremdsein ist Nicht-von-hier-Sein und das ist Bestandteil des Menschseins: Wir kommen alle irgendwoher und gehen irgendwohin, weil wir Menschen sind, schreibt Lászlo Darvasi in seinem großen historisch-fantastischen Roman "Die Legende von den Tränengauklern", in dem es um das Durchzugsgebiet des pannonischen Beckens zwischen Donau und Karpathen geht. Menschsein ist Unterwegs-Sein, Leben ist der Zustand zwischen Herkunft und Ankunft. In Gegenden, auf deren Boden sich über Jahrtausende Migrationsspuren eingeschrieben haben, wird so gut wie jedes Leben gelegentlich vom Fremden gestreift – und dennoch wird das Nicht-von-hier-Sein gern zum Missstand verdreht, wenn es opportun ist.

So, als knappe aber ungefähre Bezeichnung des anderen, des nicht vertrauten Ortes, aber auch eines Zustands, gibt es den Begriff der Fremde in wenigen anderen Sprachen. Die meisten Sprachen verlangen eine Präzisierung in Richtung Ausländischkeit, Auswärtigkeit oder Absonderlichkeit. Wörter, die an sich ab- und ausgrenzender sind als die Fremde, die Ausland bezeichnen kann, aber nicht muss, sie kann für Verlust an Geborgenheit stehen, aber auch für Verheißung, meistens jedoch signalisiert sie einen zumindest zeitweiligen Zustand der Nicht-Zugehörigkeit oder auch der Nicht-Gehörigkeit. Der bekannteste deutschsprachige Liederzyklus, Schuberts Vertonung der Gedichte von Wilhelm Müller als Winterreise, beginnt mit den Worten: "Fremd bin ich eingezogen, fremd geh ich wieder fort": ein Satz, ein tragischer An-satz, der auch denen bekannt vorkommt, die nicht unbedingt Schubert hören und die sich ohne Kenntnis des Zyklus nicht bewusst sein werden, dass sich in diesen ersten Worten ein ganzes Spektrum der Fremdheit entfaltet: Der traditionell zu Lehre und Bewährung in die Fremde gezogene Handwerksbursche verlässt den Ort der Hoffnung nach einer verstörenden Entäuschung, er verliert jeden Sinn für Zugehörigkeit und wird sich im Verlauf der vierundzwanzig Lieder des Zyklus der Welt schrittweise weiter entfremden.

Die Fremde also ist ein schönes Wort, poetisch und vielseitig, die Erkundung der Fremde gehörte zu den Pflichtübungen zumindest im männlichen Erwachsenwerden – und doch ist der Begriff voller Zweischneidigkeiten und Widersprüchlichkeiten, auch diese tief in der deutschen Sprache verankert, die im Kontext dieses Wortes mit so hässlichen Ausdrücken wie Fremdenhass und Überfremdung aufwarten kann. Wir alle wissen, dass es zweierlei Fremde gibt: Vertrauen gegenüber Neuland, in das man sich wagt – wagen darf – , Misstrauen gegenüber dem Anderen, Neugier auf Unbekanntes und Abwehr gegen Unvertrautes. Der zahlungskräftige Reisende wähnt sich auch im fremdesten Winkel der Welt willkommen und sieht doch gerne seinen Steuergroschen in die Taschen der Frontex-Söldner fließen, die unbetuchte Fremdlinge fernhalten – zum Schutz der sogenannten Heimat, dem Gegenbild zur Fremde. Wie Fremde ist auch Heimat ein Wort, das es nicht in vielen Sprachen gibt, das an sich schön ist, doch getrübt und gespalten von Missbrauch und engem Anspruch zum Zweck der Ausgrenzung. Wer sich das Abenteuer Fremde leisten kann, kann sich auch eine Heimat leisten, könnte man vereinfacht sagen.

"Ich weiß noch

wie stolz ich war

als Kind in der Torah zu lesen

"Einen Fremden sollt ihr

nicht bedrücken

und nicht bedrängen",

schreibt Erich Fried in seinem Gedicht "Zwei Worte" – ein schöner Anfang mit einer bitteren zweiten Strophe:

"und wie enttäuscht ich dann war

als ich lernte, daß das Wort FREMDER

- ger – im Hebräischen

nur einen Fremden bezeichnet

der zum Judentum

übergetreten ist."

Der gute, schonenswerte Fremde ist der dem Heimischen angepasste, der in die festen Formen der anerkannten Heimat Gezwängte, dem galt Erich Frieds Kritik nach der Erfahrung von dem Verlust von Heimatort, nächsten Menschen und selbstverständlich geglaubter Zugehörigkeit, ein Verlust, der ihn lebenslang die Partei der um ihre Heimat Gebrachten ergreifen ließ. Es ist keine Frage, welche Position er heute ergreifen würde, angesichts abgebrannter Flüchtlingslager, auf deren schutzlose Gefangene der Schnee fällt, oder der ertrunkenen Passagiere der Boote im Mittelmeer, deren Kentern die oben erwähnten Söldner tatenlos beobachten.

Erich Fried war der erste Dichter, den ich leibhaftig erlebte. Ich war dreizehn und sah ihn auf einem kleinen, politischen Poesiefestival, das aus Gründen, an die ich mich nicht mehr erinnere, in eine kleine unscheinbare Stadt am Rhein verlegt worden war. Im Regen stand er auf dem Marktplatz dieser Kleinstadt und las seine Gedichte vor, während hinter ihm ein anderer Dichter stand, der zuvor, in ein härenes Gewand gekleidet, eine lange Ballade über den Hunger in der Welt vorgetragen hatte, und nun einen großen Regenschirm schützend über ihn hielt.

Erich Fried war zweifelsohne der Star bei dieser Veranstaltung, ein kleiner, rundlicher Mann, dem alle andächtig im Nieselregen lauschten. Doch es war nicht nur der Kultstatus seiner Vietnamgedichte, der ihn zu etwas Besonderem machte, er war auch der Exilant von anderswo, der dieser Veranstaltung einen ganz besonderen Glanz verlieh, er war der Gast aus der Fremde, ein gebetener Gast, dessen Unheimischkeit man ihm der Sprache wegen nachsah, denn oberflächlich betrachtet hatte er diese Sprache ja gemein mit Veranstaltern, Dichterkollegen und Publikum, mit Kneipenbesitzern und den spärlichen Passanten in dieser Kleinstadt in einem aufschwungstrunkenen Westdeutschland, in dem man sich damals noch uneinig war, ob die aus Südeuropa angeheuerten Arbeitskräfte Gast-oder Fremdarbeiter genannt werden sollten.

Doch er brachte etwas aus der Fremde mit, das seinen Worten ein anderes, dringlicheres Gewicht verlieh, eine Erfahrung des Fremdseins, eine an der Fremde gewachsene Sprache, die ihn von vielen anderen Dichtern unterschied. Erich Fried selbst formulierte es einmal so: Ich hatte das Glück, in eine Zivilisation verschlagen zu werden, die den Fremden kaum heimisch werden lässt. So blieb mir meine Sprache erhalten, bereichert und zugleich bedroht und fruchtbar in Frage gestellt durch die Möglichkeit des Abstandes vom Gebrauch und Missbrauch des Alltags. Diese Worte kannte ich damals noch nicht, hätte sie in meinem Alter damals auch sicher nicht so richtig verstanden, doch bin ich sicher, dass die Ausstrahlung seiner Texte etwas mit dieser bedrohten und bereicherten Sprache zu tun hatte, eine Unmittelbarkeit vielleicht, die sich ohne den abstumpfenden Zwang zum Alltagskonsens erhält. Haften geblieben ist mir vor allem sein Gesichtsausdruck, dieser Anflug eines melancholischen Lächelns, das stets, oft nur als Hintergrund anderer Mienen, auf seinem Gesicht lag, während er seine kurzen Texte las. Das Lächeln wies ihn aus als den, der am Rand stand, außerhalb, auch wenn andere ihn umringten. Es war 1970, eine Zeit, in der politisches Engagement unabdingbar erschien, auch für Dreizehnjährige. Es gab einen Konsens des Widerstands und die Hoffnung auf Veränderung, zum Beispiel im Umgang mit Fremde und Fremden, mit Heimat und Vergangenheit, eine Hoffnung, wie man sie zum Erwachsenwerden braucht, und mit dieser Hoffnung war Erich Frieds Name verbunden.

Vor einiger Zeit – noch vor den neuen Spielregeln der Pandemie jedenfalls – fragte mich eine Moderatorin bei einer Lesung ziemlich unvermittelt und fast ungehalten: Warum immer dieses Thema der Fremde? Warum immer dieses Außerhalb-Stehen? Mich hat diese Frage verblüfft, weil sie so offensichtlich auf einer negativen Wahrnehmung des ganzen Begriffsfeldes von fremd und Fremde beruhte. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr leid tat. Dass sie sich wünschte, ich möchte doch endlich einmal vom Heimkommen schreiben. Es hat mir zu denken gegeben. Nicht in dem Sinne, dass ich eine für mich unerlässliche Sicht auf die Dinge in Frage stellen würde, sondern eher als Anstoß, diese Unerlässlichkeit zu artikulieren. Fremde und Heimat bilden im Deutschen ein widerborstiges Paar, und zwischen ihnen liegt das nie recht zu bestimmende Land der Suche, wo manche zu Hause sind, ohne es je Heimat zu nennen. Manche gehören zu diesem naturgemäß versprengten und verlorenen Stamm der Sucher, denen Heimat – ein allenfalls zu flüsterndes Wort – nur ein bestimmtes Licht sein kann, womöglich aus Furcht vor der Schwere, die das Wort – zu laut ausgesprochen – an den Tag legen kann, wenn es zu sehr an einem Ort haftet, einem Landstrich, einem Land, und mir nichts dir nichts zum Klotz am Bein wird oder zum geworfenen Stein. Für manche gibt es diese Notwendigkeit, außerhalb zu stehen und mit Abstand zu sehen, am Rand und nicht im Kreis, vom Mittelpunkt einmal ganz zu schweigen, das Bedürfnis, durch fremde Sprachen die eigene zu erkunden und auszuloten. Mir kam bei den Fragen der Moderatorin Heinrich von Kleist in den Sinn und das Haus in Frankfurt an der Oder, in dem er zumindest zeitweise seine Jugend verbrachte. Heute steht das Haus direkt am Fluss, der unter dem blassen Hochnebelhimmel Mitteleuropas hier die Grenze nach Polen zieht. Zu Kleists Zeiten war es keine Grenze und auch der Fluss wird einen anderen Verlauf gehabt haben, der Blick wird eher auf eine feuchte Auenlandschaft mit Weiden und Erlen gegangen sein, wie sie typisch ist für die weiten, sich langsam anbahnenden Mündungslandschaften in sandigem Boden. Eine Erlkönigslandschaft mit taubenblauem Himmel, hellgrauem Dämmer, mit Dunst und weiten Wolkenlandschaften, die eher Zwischenland als Grenzland war.

Ich wuchs an einem Fluss auf, am Rhein, viel breiter als die Oder und unter einem sehr anderen Himmelsblau und Licht als es an der Oder herrscht, doch möglicherweise liegt es an diesen Eindrücken aus der Kindheit, dass ich bei allem Wissen um die landschaftlichen Verwandlungen der Gegend über die Jahrhunderte diesen Blick auf den Fluss als Grenze kaum aus Kleists Vorstellung, aus seinem Schreiben, seinem Kreisen um Orts- und Ordnungsverlust wegdenken kann. Heute hängt im Kleisthaus das vergrößerte Faksimile eines seiner Briefe, in dem der Satz steht: "Wir tragen unser Herz umher am falschen Ort". Eine befremdende Feststellung, weil sie das Vorhandensein des rechten Ortes vorgibt, ohne den es nicht den falschen geben würde. Das Gefühl, am falschen Ort zu sein, am unheimischen, fremden, kann ich nachvollziehen, ohne dass es für mich einen negativen Beiklang hat, doch was hat es auf sich mit dem implizierten rechten Ort fürs Herz, dem seinerseits als Sitz so vieler Ungreifbarkeiten so vieles zugeschrieben wird? Ist es der Ort des Aufgehobenseins, einer Zugehörigkeit, an dem sich die Linien von Welt und Leben auf eine Art und Weise kreuzen, die Denken und Dasein zuträglich sein soll? Ist es womöglich ein Luftschloss der Unfremde wie in dem ungarischen Volkslied, das wie die meisten heimatfixierten Volkslieder eine traurige Antwort auf die Not ist, die das Fortgehen in die Fremde erfordert? Ist nicht der Platz des Dichters, jeden Künstlers, immer der "falsche", weil nicht zugewiesene, nicht selbstverständliche, nie vertraute, und ist nicht Erich Frieds Aussage von der förderlichen Fremde und der mit ihr verbundenen permanenten Spannung zwischen Bedrohung und Bereicherung ein Ort, an dem Dichtung und Kunst einenUrsprung haben, ein Ort, von dem aus man sehen, erkennen, benennen und schreiben kann?

Mit meiner Entscheidung für die Fremde als Wahlheimat will ich keine Not schmälern, die Menschen zur Fremde zwingt. Aber ich möchte ein Lob der Fremde zum Ausdruck bringen, ein Lob des Irgendwo und des Von-Irgendwo-Her, ein Lob der Fremde als Gewinn, als notwendiger Teil einer schöpferischen Bewegung. "Ger" ist wie erwähnt das hebräische Wort für "Fremder", dem Erich Frieds einen Teil seines zitierten Gedichts "Zwei Worte" widmet. Sicher hat er auch gewusst, dass Moses, nicht ahnend, dass er die verheißene Heimat nie erreichen würde, seinen ersten Sohn Gershom nannte, zum Gedenken an sein Leben als Fremder in der Fremde – a stranger in a foreign land, wie es auf Englisch heißt, wo ein so schönes Wort wie Fremde nicht zur Verfügung steht. Dafür aber gibt es die – allerdings dem Französischen entlehnte – schöne englische Übersetzung des Namens Gershom als sojourner, was so viel heißt wie ein Gast auf Reisen, der Zeitweiligkeit verschrieben, der Unstetigkeit und nicht der Dauer und Verwurzeltheit. Vielleicht wäre das der rechte Name für den bodenlosen Stamm der Dichter aus und in der Fremde.

Meine Freude über diesen Preis gilt nicht nur der damit verbundenen Anerkennung meiner Arbeit, sondern auch der Tatsache, dass diese Würdigung mit dem Namen Erich Frieds verbunden ist. Sein Name steht bis heute für eine politische Dimension in der Dichtung, die mit diesem Preis in gewisser Weise auch meiner, in vieler Hinsicht von Fried so weit entfernten Arbeit zugestanden wird. Das ist für mich wichtig, und ein besonderer Grund zum Dank. Eine politische Dimension tut sich nicht nur in der expliziten Stellungnahme auf, sondern kann sich auch zwischen Bildern und beiläufigen Wahrnehmungen entfalten und in dem Winkel liegen, aus dem man vom Rand aus auf die Dinge schaut. Ein Text ist politisch, wenn er in den Lesenden den Blick auch nur auf einen kleinen Ausschnitt der Welt verändert, wandelt, weitet, einlädt, sich auf Fremdes einzulassen.

Ich denke mir, dass Erich Fried sich ganz am rechten Platz gefühlt hätte in dem kleinen Zug über die österreichisch-italienische Grenze, Richtung Udine und Triest, in diesen Rückzugszeiten der verordneten Heimischkeit. Er hätte den Männern gelauscht, vielleicht mit ihnen geredet, und sich hinter seinem melancholischen Lächeln diese dort zusammengewürfelten Fremden mit ihrer lingua franca der Heimatlosigkeit zu Herzen genommen.

Ich danke der Erich Fried Gesellschaft und Dir, Maja, nicht nur für Deine Entscheidung, mir den Preis zuzuerkennen, sondern auch dafür, dass Du Dich meinem Schreiben so offen und voll Verständnis zugewandt hast. (Esther Kinsky, ALBUM, 9.5.2021)