Ema (Mariana di Girolamo) und Gastón (Gael García Bernal) trauern dem Adoptivsohn hinterher, den sie wieder abgegeben haben.
Filmladen

Während die Multiplexe vorerst noch geschlossen bleiben müssen, dürfen die Arthouse- und Freiluftkinos unter Corona-Auflagen endlich den Spielbetrieb starten. Dort ist mit Pablo Larraíns Ema genau der richtige Film nach der langen Abstinenz zu sehen: ein kinematografischer Rausch, anarchisch, flirrend, bildgewaltig. Zudem ist Ema ausgestattet mit einem zwischen waberndem Elektroteppich und stampfendem Reggae-Ton changierenden Soundtrack des chilenisch-amerikanischen Musikers Nicolas Jaar. Der Film schreit förmlich nach der großen Leinwand und fackelt dabei jegliche Erwartungen ab.

Es muss brennen

Ganz buchstäblich, denn gleich zu Beginn sehen wir eine brennende Ampel und dann: Ema (Mariana di Girolamo) und ihren Flammenwerfer, mit dem sie noch öfter nachts in der chilenischen Hafenstadt Valparaíso unterwegs sein wird. Sie selbst symbolisiert das Feuer, wie Flammen zieren die wasserstoffblond gefärbten, nach hinten gekämmten Haare ihren Kopf.

Tänzelnd durch verschiedene Zeitebenen (und immer wieder auf eine Tanzperformance vor der Projektion einer glühenden Sonne zurückbezogen) erschließt sich der Plot erst nach und nach: Tänzerin Ema und der zeugungsunfähige Choreograf Gastón (Gael García Bernal) haben ihren adoptierten Sohn zurückgegeben, nachdem dieser Emas Schwester schwer verletzt hatte. Doch Ema will das Kind nun unbedingt wiederhaben.

Widersprüchliche Frauenfiguren

Der chilenische Regisseur Larraín erzählt mit Musical- und Performanceanleihen kunstvoll-assoziativ von Muttergefühlen, (körperlichen) Begierden und sprengt das klassische Korsett der Institution Familie. Ema verführt wahllos Männer und Frauen, wickelt alle um ihre impulsiven Finger. Sie nimmt sich, was auch immer zum Erreichen des Ziels nötig ist. "Ema, du ziehst in den Krieg, vielleicht sehen wir deinen wunderschönen Körper nie wieder", heißt es im Film einmal.

Larraín ist ein Kinoexzentriker mit einem Faible für starke, widersprüchliche Frauenfiguren. Zuletzt erzählte er in Jackie von der Präsidentengattin Jacqueline "Jackie" Kennedy (verkörpert von Natalie Portman) kurz nach der Ermordung ihres Mannes.

Filmische Explosion

Behandelte dieser elegisch zwischen den Zeitebenen springende Film die Schockstarre der Witwe, gleicht das beim Filmfestival Venedig uraufgeführte Nachfolgewerk Ema nun einer filmischen Explosion: einem Befreiungsschlag aus gesellschaftlicher wie künstlerischer Konformität. Dazu bedarf es, wie es eine Tanzkollegin Emas einmal auf den Punkt bringt, einer Bereitschaft für das "Chaos und die perverse Seite der Macht". (Jens Balkenborg, 19.5.2021)