Wie lange ich schon nicht mehr bei ihm gewesen sei, fragte Robert Fritz. Und setzte diesen Blick auf. Kurz, aber doch. "Diesen Blick" kenne ich. Nicht nur von Fritz: Ihn setzt auf, wer eine Frage stellt, die keine ist. Sie soll dem Gefragten ein schlechtes Gewissen machen. Wobei man "soll" weglassen könnte – schließlich impliziert es böse Absicht. Dabei hat der Tadel durch Blick und Unterton Berechtigung. Mein Steuerberater, mein Zahnarzt, meine Mutter – sie alle haben recht, wenn eine Frage davon begleitet wird. Alle wissen, dass Frage, Blick und Unterton nur kommen, wenn ich etwas nicht erledigt habe, obwohl es wichtig wäre. Falsch: wichtig ist. "Wie lange warst du schon nimmer hier?", fragte Robert Fritz also und hatte diesen Blick.

Thomas Rottenberg

Robert Fritz taucht in dieser Kolumne öfter auch. Mit Gründen: Er ist Sportmediziner und einer der Köpfe der Wiener Sportordination in Wien-Alsergrund. Und auch wenn ich hier regelmäßig auf seine Expertise zurückgreife und ihn hier öfters sagen lasse, wie wichtig es ist, sich regelmäßig durchchecken zu lassen, gehöre ich in diesem Punkt zu jenen Menschen, die A sagen und B tun: Meine letzte Leistungsdiagnostik liegt schon ein bisserl zurück. Wie lange? Sag ich nicht. Was eh alles sagt – und angeblich eher männlich denn menschlich ist.

Thomas Rottenberg

Wieso das so ist? Eventuell ja, weil Frauen von klein auf anerzogen wird, regelmäßig zum Gynäkologen oder zur Gynäkologin zu gehen. Männer gehen zum Arzt, wenn sie sich krank fühlen. Das beginnt bei jenem kleinen Satz, den Buben mit aufgeschlagenen Knien immer noch öfter hören als Mädchen: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz." Das ist Blödsinn und hat Folgen: Niemand käme auf die Idee, sein Auto erst dann zu Pickel und Service zu bringen, wenn es nicht mehr fährt oder die Bremsen versagen. Die Therme wird jährlich gewartet, meine Fahrräder sind regelmäßig beim Service. Aber zum Arzt gehe ich erst, wenn irgendetwas nicht funktioniert (abgesehen vom Zahnarzt).

(Im Bild: Sportordi-Ernährungsexpertin Teresa Schmit bei der Körperfettmessung. Ein brutaler Schlag. Ja, in die Magengrube.)

Thomas Rottenberg

Ich weiß, das ist das Gegenteil von schlau. Detto, dass es nicht wehtut. Mehr noch: In Wirklichkeit tut die regelmäßige "Vermessung des Menschen" sogar gut: Ich will wissen, wo ich stehe. Nicht nur was Blut- und andere Werte angeht. Ich finde es jedes Mal interessant, wenn mir irgendwer erklärt, in welchem Pulsbereich er, sie oder ich bei welcher Trainingsintensität unterwegs sein sollte – und wenn ich frage, woher diese Werte kommen, großes Staunen ernte: "Steht doch eh im Internet" oder "200 minus Alter". So als wäre es ein Naturgesetz. Vor diesem, vor Gott und vor der Justiz sind alle Menschen bekanntlich gleich. Und die Erde ist eine Scheibe.

Thomas Rottenberg

Genau diese oft nur kleinen Ungleichheiten, individuellen Marken, Grenzen und Grenzwerte sind es aber, die beim Sport – gerade auch beim Hobby- und Amateursport – den Unterschied zwischen "gesund und sinnvoll" und "sich langfristig schädigen" machen. Genau deshalb ist es sinnvoll, sich von einem Spezialisten oder einer Spezialisten regelmäßig durchchecken zu lassen. Natürlich können das Hausarzt und Hausärztin auch. Wenn sie selbst Sport machen, ist das optimal. Sie schicken einen vermutlich ohnehin zur spezialisierten KollegInnenschaft weiter. Und sie wissen: Sport ist ein "Mindset": Mein Nachbar lässt sich auch mit leichtem Schnupfen krankschreiben – und liegt tatsächlich im Bett. Wenn ich mit Schnupfen daheim bleibe, werde ich nicht gesund, sondern wahnsinnig.

Ins Ärztliche übersetzt: Ein Sportmediziner oder eine Sportmedizinerin weiß, was "unsereinen" treibt – und taktet Befindlichkeiten und Probleme daher anders ein als der Hausarzt.

Thomas Rottenberg

Aber vor allem liest der Sportmediziner, die Sportmedizinerin die Daten aus Blutbild und EKG nicht nur anders, sondern holt sich deutlich mehr: "Leistung" vor "Diagnostik" soll ja nicht nur hübsch klingen. Laienhaft formuliert, ergeben die überall fröhlich kommunizierten Pulsbereiche, in denen man sich bewegen soll, all das "GA 1, 2,3"-Gerede und ähnliche Leitungsklassen-Definitionen erst durch die Kombination aus Puls- und Blutwerten bei unterschiedlichen Belastungsstufen wirklich Sinn.

Thomas Rottenberg

Ob ich bei 140 Pulsschlägen pro Minute gerade mal vom Aufwärm- in den Grundlagenbereich komme oder schon knapp vor dem Vom-Bock-Fallen bin, hängt natürlich vom Alter ab. Das weiß jeder. Aber schon die Tatsache, dass es einen Unterschied macht, ob ich am Rad sitze oder beim Laufen mein Gewicht bei jedem Schritt in die Luft schmeiße, überrascht dann manche gutmeinende "ExpertInnen", vor allem die auf Social Media.

Von "Nebensächlichkeiten" wie Trainingszustand, -volumen, aktueller Vorbelastung und individueller Disposition rede ich da gar nicht: Wenn Sie am Rad bergauf schon fast explodieren und von jemandem überholt werden, dessen Pulswerte (man kann ja einen Blick auf das fremde Display erhaschen) gerade in Ihrem Sofasitzbereich sind, sagt das über Sie genau gar nichts: Der oder die Betreffende tickt eben anders.

Thomas Rottenberg

Denn neben dem Puls und der Leistung (egal ob am Rad oder am Laufband) wird beim Leistungscheck noch etwas (und zwar mehrfach) gemessen: der Laktatwert Ihres Blutes. Der besagt, laienhaft formuliert, in welchem Leistungsbereich Sie sich gerade bewegen. Also ob Sie in einem Bereich unterwegs sind, in dem Sie noch stundenlang so weitermachen könnten oder schon alle Nachbrenner eingeschaltet haben und gerade die letzten Energiereserven aus sich rausholen. Diese Grenzen definieren den Unterschied zwischen "Abschießen" und "Aufbauen" beim Training – und damit auch zwischen Erfolg und Absturz im Wettkampf.

Thomas Rottenberg

Aber vor allem definiert das Kennen von Grenzen und Schwellen auch den Unterschied zwischen langfristig gesundem und ungesundem Sport. Weil vernünftiges Training nicht nur "Vollgasgeben" bedeutet, sondern vor allem auch den Wechsel zwischen Spannung und Entspannung braucht: Einheiten, in denen man an die eigenen Grenzen geht – meist hart und knackig. Aber auch lange, ruhige, lockere Phasen, in denen der Körper auf einem konstanten Level langfristig Leistung liefert. Und die Pausen dazwischen, die Erholung – aktiv wie inaktiv.

Vereinfacht gesagt geht es beim Training darum, diese Grenzen so zu verschieben, dass man Leistung gezielt abrufen kann. Will ich mich lange und energieeffizient zügig bewegen, oder will ich mit einem "Peng" alles Verbrennen? Beides hat seine Berechtigung, beides macht (hoffentlich) Spaß.

Aber um das kontrolliert zu tun, muss ich eines wissen: wo meine Grenzen und Schwellen gerade liegen.

Thomas Rottenberg

Natürlich geht das alles auch "Daumen mal Pi". Solange Sie gesund sind. Solange Sie jung, sagen wir unter 35, sind. Solange Sie "nur ein bisserl sporteln" wollen und sich keine ehrgeizigen Ziele stecken.

Aber genau hier beginnt das Missverständnis: Auch wenn "ein bissi abnehmen", "vier Stockwerke ohne Verschnaufpause" oder "endlich drei Kilometer durchlaufen" nicht nach Marathon, Everest oder Ironman klingt, sieht Ihr Körper das ziemlich sicher anders: Das ist ehrgeizig. Sonst wäre es kein Ziel, sondern Ihr Alltag.

Gerade Menschen, die weg von der Couch und wieder ein aktiveres Leben führen wollen, schießen sich da rasch selbst ins Knie. Oder eben ins Herz. Sind Sie wirklich 100 Prozent sicher, dass Sie gesund sind, nur weil ihnen im Sitzen nix wehtut? Wollen Sie das nicht lieber vorher abklären? Zum Zahnarzt gehen Sie ja auch nicht erst, wenn Sie Zahnschmerzen haben.

Thomas Rottenberg

Wenn dann bei alledem "nix" rauskommt, könnten Sie natürlich fragen, wozu Sie das jetzt gemacht haben. Aber glauben Sie mir: "Nix" spielt es nicht. Denn es gibt immer Schrauben, an denen Sie ein bisserl drehen können.

Auch wenn Sie nach menschlichem und medizinischem Ermessen pumperlgesund sind. Auch wenn Ihnen Michael Koller (der Sportwissenschafter und Trainingsplanexperte der Sportordination) und Ernährungswissenschafterin (und ebenfalls Sportwissenschafterin) Teresa Schmit dann anhand der Kurven und Diagramme aufdröseln, dass der Inhalt des Plans von Ihrem Coach (falls Sie sich sowas gönnen) ziemlich genau jene Schwerpunkte, Strategien und Wechsel beinhaltet, die die medizinische Diagnose auch nahelegt.

Thomas Rottenberg

Auch wenn das für Sie "nix" ist: Tun Sie es trotzdem. Obwohl "nix" doch etwas kostet: Ihr Auto bringen Sie ja auch zum Service. Die Therme lassen Sie warten. Und zum Zahnarzt gehen Sie auch. Obwohl Sie all das – sogar die Zähne – nachkaufen könnten.

Aber genau das ist der Unterschied zu ihrem Körper. Den bekommen Sie nur einmal. (Thomas Rottenberg, 19.5.2021)

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Besuch in der Sportordination wurde regulär ver- und abgerechnet. Und: Leistungsdiagnostische Checks machen natürlich auch 1.000 andere Ärztinnen und Ärzte – etliche auch mit "normalen" Kassenverträgen.

Weiterlesen:

Pieks & Run: Der Laktattest

Sport nach Corona-Infektion: Zuerst checken, dann trainieren

Thomas Rottenberg