Anita Zielina (41) ist eine von 35, die am 10. August den Chef von Österreichs größtem, rund eine Milliarde schwerem Medienkonzern bestimmen. In den ORF-Stiftungsrat haben die Neos die Digitalexpertin, die an der City University of New York die Weiterbildung für Medienführungskräfte leitet, Ende 2020 entsandt.

Zielina übernahm das Mandat im ORF-Gremium von Hans Peter Haselsteiner, der seinen Rückzug im STANDARD auch damit erklärte, dass 2021 ohnehin Kanzler Sebastian Kurz "wie Caligula mit Daumen rauf oder Daumen runter" den nächsten ORF-Chef bestimme. ÖVP-nahe Stiftungsräte haben ganz ohne andere Couleurs die nötige Mehrheit. Bisher hat nur der seit 2007 amtierende Sozialdemokrat Alexander Wrabetz erklärt, er bewerbe sich neuerlich.

Was gaben die Neos Zielina für ihre ORF-Aufgabe mit? "Sie wollten die Funktion nicht parteipolitisch besetzen, sondern mit Wissen und Erfahrung mit Medien, Digitalisierung, Transformation einer unabhängigen Expertin", sagt sie im STANDARD-Interview.

Natürlich absprechen

"Natürlich werde ich mich über die großen Abstimmungen im ORF mit Mediensprecherin Henrike Brandstötter und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger absprechen. Das ist klar, und das sehe ich auch als Commitment. Aber sonst sagen mir die Neos nicht, was ich da tun soll" (lacht). Das Gesetz verpflichtet Stiftungsräte des ORF ja zur unabhängigen und weisungsfreien Tätigkeit im wichtigsten ORF-Gremium.

Im STANDARD-Interview (unten) arbeitet Zielina ein Anforderungsprofil für den nächsten ORF-Chef oder die nächste Chefin heraus. Beim künftig multimedialen Newsroom ist für Zielina klar: "Selbstverständlich darf das nicht zu einem Superchefredakteur führen, der in alle Medien durchregiert. Es muss ein Führungsteam geben, zur politischen Hygiene – und weil die Herausforderungen zugleich journalistische, kaufmännische wie technologische sind."

ORF-General Wrabetz hat bisher von einem Führungsteam für den Newsroom gesprochen.

"Natürlich liegt da vor dem ORF noch ein weiter Weg": Zielina im STANDARD-Interview

Anita Zielina leitet derzeit alle Weiterbildungsprogramme für Medienführungskräfte an der Craig Newmark Graduate Journalism School der City University in New York. Davor war sie als Journalistin und Medienmanagerin mit Schwerpunkt Digitalisierung in Österreich, Deutschland und der Schweiz tätig: Als Chief Product Officer und Mitglied des Managementteams der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) in Zürich; als langjährige Redakteurin und stellvertretende Chefredakteurin beim STANDARD und als stellvertretende Chefredakteurin und Onlinechefin des deutschen Magazins "Stern". Sie absolvierte 2012 das Knight Fellowship an der Stanford University in Kalifornien und war 2018 Gastlektorin am Reuters Institute der Oxford University. Zielina schloss an der Universität Wien ein Studium der Rechtswissenschaften ab und hält einen Master of Business Administration (Executive MBA) der Insead School of Business. Sie ist Vorstandsmitglied der Online News Association, der weltgrößten Vereinigung von OnlinejournalistInnen, und Vorstandsvorsitzende der News Product Alliance, einer Vereinigung für Produktmanager im Medienbereich.
Foto: Jessica Bal / CUNY

STANDARD: Wie ist Ihr erster Eindruck vom Stiftungsrat?

Zielina: Eine extrem professionelle und konstruktive Diskussion, in der sich auch viele eingebracht haben.

STANDARD: Wie ist der erste Befund über den ORF, sozusagen von innen?

Zielina: Ich habe seit Februar Zugang zu den wesentlichen Unterlagen und führe jetzt Gespräche mit vielen Menschen aus dem ORF, die auf mich zugekommen sind, die sich freuen, dass sich da noch jemand zusätzlich in dem Gremium mit Digitalisierung und Transformation befasst.

STANDARD: Ist der ORF in Sachen Digitalisierung und Transformation auf der Höhe der Zeit?

Zielina: Natürlich liegt da vor dem ORF noch ein weiter Weg – wie bei vielen traditionellen Medienunternehmen, mit denen ich arbeite: Er steckt mittendrin. Das unterscheidet ihn nicht massiv von anderen öffentlich-rechtlichen und auch privaten Medienunternehmen.

STANDARD: Was ist also zu tun?

Zielina: Der ORF muss in den nächsten Jahren diese Transformation schaffen, mit neuen Strukturen, neuen Prozessen, neuen Rollen, neuen Workflows und einer neuen Kultur in einem traditionellen Rundfunkunternehmen. Es muss im ORF klar sein, dass das kein rein technischer, kein rein baulicher Prozess ist.

STANDARD: Und ist das im ORF nach Ihrem ersten Befund schon klar?

Zielina: Das kann ich für den ORF noch nicht sagen. Aber ich beobachte bei einigen traditionellen Medienunternehmen den Irrtum, eine Investition in Technologie sei schon der entscheidende Schritt. Mit einem neuen multimedialen Newsroom und einem technologisch modernen ORF-Player passiert die Transformation noch nicht automatisch. Das sind nur zwei Puzzleteile. Da ändert sich die Arbeit jedes und jeder Einzelnen in den nächsten zehn Jahren. Das passiert nicht von selbst, da braucht es tagtägliche Überzeugungsarbeit. Das kostet viel Energie und Kraft.

STANDARD: Sind Sie da als Stiftungsrätin womöglich schon mit Hilferufen aus dem Unternehmen konfrontiert? Motto: Hilfe, ich kann da nicht mit, das ist Unsinn?

Zielina: Ich habe noch keine Angst gespürt, eher gespanntes, vielleicht auch angespanntes Erwarten, eher hoffnungsfroh, aber teils auch unklar, wie das funktionieren wird. Unsicherheit ist immer ein Bestandteil solcher Veränderungsprozesse.

STANDARD: Ist der ORF nicht ein bisschen spät dran? Ich höre die Pläne für ORF-Videoplattformen mit Interaktion und Empfehlungen schon ein Jahrzehnt.

Zielina: Ich habe mich zehn Jahre mit dem ORF nicht beschäftigt, bin seit neun Jahren nicht mehr in Österreich. Der ORF ist nicht in einer Position, um sich zurückzulehnen. Das würde ich aber über fast jedes traditionelle Medienunternehmen sagen. Man kann Transformation als schmerzvollen Müssen-wir-machen-Prozess sehen und warten, bis sie sein muss. Oder man kann sie als Möglichkeit sehen, sich zumindest teilweise neu zu erfinden. Das sind meist die Unternehmen, die solche Prozesse besser meistern.

STANDARD: Hat eigentlich schon Markus Breitenecker bei Ihnen angerufen, der den Neos nicht so fern steht? Der Geschäftsführer und Baumeister von Österreichs größter Privatfernsehgruppe ProSiebenSat1Puls4 hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ja schon einiges zum öffentlich-rechtlichen ORF überlegt.

Zielina: Nein, wir haben noch nicht geplaudert.

STANDARD: Was haben Ihnen die Neos denn mitgegeben für Ihre Aufgabe als Mitglied des Stiftungsrats im ORF?

Zielina: Die Neos haben mir erklärt, sie wollen die Funktion anders besetzen, als man es in Österreich üblicherweise würde. Nicht parteipolitisch, sondern mit Wissen und Erfahrung mit Medien, Digitalisierung, Transformation als unabhängige Expertin. Ich hätte nicht Ja gesagt, wenn ich mit den grundlegenden medienpolitischen Positionen der Neos nicht zurechtkommen könnte. Natürlich werde ich mich über die großen Abstimmungen im ORF mit Mediensprecherin Henrike Brandstötter und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger absprechen. Das ist klar, und das sehe ich auch als Commitment. Aber sonst sagen mir die Neos nicht, was ich da tun soll (lacht).

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass Expertise auch bei der Besetzung der übrigen 34 ORF-Stiftungsräte entscheidend war – soweit Sie sie schon kennengelernt haben. Die Neos kritisierten ja schon vielfach die Parteipolitisierung dieses Gremiums.

Zielina: Die Parteipolitik zeigt sich schon in der Struktur, im Entsendemechanismus. Das sollte es nicht sein. Das hat nichts mit der Qualität der Leute zu tun, die jetzt in dem Gremium sitzen. Ich war jetzt einmal in diesem Gremium, habe mit vier oder fünf Stiftungsräten länger gesprochen. Ich würde mir nicht anmaßen, über Kompetenz im Gesamtorgan zu urteilen. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sind engagiert und kompetent. Kritik an der Struktur und am Bestellungsprozess bedeutet nicht Kritik an den Mitgliedern des Organs. Es ist eine Frage der politischen Kultur, ein Aufsichtsorgan anders zu besetzen.

STANDARD: Nämlich wie?

Zielina: Ähnlich wie in Aktiengesellschaften. Eine Hauptversammlung wählt ein Präsidium, und zwar mittels transparenter und internationaler Ausschreibungen. Dieses bestellt wiederum einen Vorstand.

STANDARD: Im August wird der aktuelle Stiftungsrat – auch mit Ihrer Stimme – eine grundlegende Entscheidung über die Zukunft des Unternehmens treffen: Wer führt den ORF als Generaldirektor oder Generaldirektorin in den nächsten fünf Jahren ab 2022. Wie werden Sie entscheiden?

Zielina: Ein wesentlicher Teil für diese Entscheidung fehlt: Wer bewirbt sich tatsächlich? Für eine Generaldirektorin jedenfalls sehe ich derzeit leider noch keine Signale.

STANDARD: Der eine oder andere lässt sich absehen. Aber Sie werden sich vielleicht schon Kriterien überlegt haben, nach denen Sie entscheiden werden.

Zielina: Ob derselbe General oder ein neuer: Ich sehe einige entscheidende Punkte für eine solche Bestellung, alle unter der Perspektive Transformationsprozess. Ein großes Thema sind Talente. In den nächsten Jahren gehen 600 Menschen im ORF in Pension. Das eröffnet viel Spielraum, um junge, begeisterte, digitale Menschen an den ORF zu binden, ihnen Möglichkeiten und Verantwortung zu geben. Und zugleich den vielen engagierten Menschen im ORF Perspektiven in der Digitalisierung zu schaffen und ihnen die nötigen Skills dafür zu vermitteln. Das ist eine große Chance, die Rollen im ORF neu zu definieren – von digitalem Storytelling bis zu digitalem Marketing. Dazu will ich von einem neuen Generaldirektor, einer neuen Generaldirektorin einen konkreten Plan sehen – auch mit klaren Vorstellungen für Diversität.

STANDARD: Damit bekommt man Ihre Stimme?

Zielina: Ich will von einem neuen Generaldirektor ebenso wissen: Wer leitet diesen großen Transformationsprozess, wie wird er begleitet, wie wird er budgetiert? Ein multimedialer Newsroom und ein Konvergenzprozess darf kein reiner Sparprozess sein. Ich will wissen, wo sind die Investitionen in Innovation und Kulturwandel. Ein weiterer zentraler Punkt ist für mich Relevanz. Es geht bei digitalen Plattformen nicht allein um die 18-Jährigen: Wie schafft man es, für die 25- bis 45-Jährigen relevant zu bleiben? Das hat sehr viel mit nutzerzentriertem Arbeiten zu tun, mit Dialog mit dem Publikum bei der Produktentwicklung. All das will ich von einem Führungsteam, einem Generaldirektor wissen.

STANDARD: Ihr Vorgänger Hans Peter Haselsteiner hat sich aus dem Stiftungsrat verabschiedet mit dem Befund, er könne in diesem Gremium nichts für Entparteipolitisierung tun, und den nächsten ORF-General bestimme Kanzler Sebastian Kurz über die ÖVP-Mehrheit im Stiftungsrat ohnehin allein mit Daumen rauf oder runter wie römische Kaiser in der Arena.

Zielina: Ich gehe nicht in dieses Gremium mit der Hoffnung auf formellen Einfluss. Ich bin nur eine Stimme von vielen. Aber mit Gesprächen, Allianzen, gemeinsamem Zugang zu Themen wie Digitalisierung, Diversität kann man auch in Gremien etwas bewegen. Und ich will Ansprechpartnerin sein für Menschen im ORF über Digitalisierung auch anderer Unternehmen, etwa in den USA.

STANDARD: An welchem Unternehmen könnte sich der ORF denn orientieren? Was wäre ein Vorbild? Wohin soll der ORF schauen?

Zielina: Es gibt für erfolgreiche Transformation keine Blaupause. Unendlich viele Medienunternehmen machen bestimmte Dinge gut. Der Südwestdeutsche Rundfunk zum Beispiel hat eine ziemlich starke und ziemlich gut dotierte Innovations- und Transformationsabteilung aufgebaut. Davon kann man sich inspirieren lassen und fragen: Wo ist denn diese Abteilung im ORF? Die "Washington Post" hat einen extremen Sprung in Sachen digitales Marketing und Arbeit mit Zielgruppen gemacht. Man kann sich ansehen, wie die "Zeit Online" in einen Dialog mit den Nutzern gegangen ist. Man kann fragen, ob die Landesstudios nicht genau dieses Ohr am Puls der lokalen Communitys sein können und hyperlokalen Lokaljournalismus machen.

"Bei der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollte man sich nicht allein auf den Markt verlassen."

STANDARD: Das hören die traditionell medienpolitisch gewichtigen Regionalverleger jetzt vermutlich weniger gern. Der Vertreterin einer liberalen Partei im ORF muss man die Frage nach der Gebührenfinanzierung stellen. Ist die noch zeitgemäß?

Zielina: Ich bin nicht Parteimitglied und nicht in jedem Punkt dem Parteiprogramm der Neos verpflichtet. Eine Abschaffung der GIS-Gebühren sieht es auch nicht vor. Ich bin fest davon überzeugt, dass man sich bei der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht allein auf den Markt verlassen sollte. Ich lebe in den USA und erlebe, was mit Medien passiert, wenn man sich rein auf den Markt verlässt. Wir haben vier Jahre mit Donald Trump hinter uns, die uns eine TV-Landschaft gezeigt haben, in der es kein unabhängig mehr gibt, nur noch links oder rechts, pro oder kontra. Ich will nicht, dass Österreich so wird. Man kann hier beobachten, was das mit politischer Kultur und Gesellschaft macht.

STANDARD: Also weiterhin GIS-Gebühr?

Zielina: Im Kulturbereich, im Medienbereich halte ich staatliche Grundfinanzierung für notwendig und richtig – wie in der Gesundheit. Die Frage ist: Ist das Gebührenmodell das effektivste und effizienteste dafür? Eine Haushaltsabgabe wie in Deutschland mit sozialer Abfederung ist aus meiner Sicht das effektivere Modell. Das Thema muss man diskutieren.

STANDARD: In der ÖVP-FPÖ-Koalition war noch eine Finanzierung aus dem Bundesbudget Thema.

Zielina: Der massive Unterschied ist: Gebühren sind zweckgewidmet und Steuern eben nicht. Ich halte eine Steuerfinanzierung des ORF für brandgefährlich, wenn ein ORF-Generaldirektor in jeder Budgetperiode zum Finanzminister betteln gehen muss. Österreich hat ohnehin schon ein Kulturproblem mit der Einflussnahme von Politik im Medienbereich. Budgetfinanzierung würde da Öl ins Feuer gießen.

STANDARD: Apropos Einfluss: Bald nach der Bestellung des ORF-Generals ab 2022 geht es im ORF um eine redaktionelle Schlüsselposition – die Führung des gemeinsamen Newsrooms über alle ORF-Medien.

Zielina: Ich verrate kein Geheimnis, dass dieses Thema im ORF-Stiftungsrat im Juni, in der letzten Sitzung vor der Bestellung im August, noch einmal grundlegend diskutiert werden soll. Ich halte das tatsächlich für eine zentrale Entscheidung. Selbstverständlich darf das nicht zu einem Superchefredakteur führen, der in alle Medien durchregiert. Darin sind sich alle in Österreich einig, denen ein unabhängiger öffentlicher Rundfunk wichtig ist. Aber eine reine Matrix, wo 20 Leute gleich viel zu sagen haben, birgt die Gefahr von Chaos und ständigem Konflikt. Es muss ein Führungsteam geben – zur politischen Hygiene, und zugleich weil die Herausforderungen journalistische, kaufmännische wie technologische sind. (Harald Fidler, 20.5.2021)