Gedenken an die Corona-Toten im Dezember in Wien: Das Erwachen aus der sommerlichen Sicherheitsillusion fiel in vielen Nachbarländern noch böser aus als in Österreich.

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Die traurige Serie ist seit mehr als acht Monaten nicht abgerissen: Am 19. September des Vorjahres verbucht die Statistik jenen Tag, an dem in Österreich zum letzten Mal niemand an Covid-19 gestorben ist. Seit dem Ausbruch im Frühjahr 2020 hat die Pandemie hierzulande laut Letztstand am Donnerstag dieser Woche 10.573 Menschen dahingerafft.

Nun, wo die hoffentlich finale Welle gebrochen scheint, drängt sich eine Bilanz auf. Ist die fünfstellige Todeszahl ein Resultat politischen Scheiterns? Oder kam Österreich damit noch relativ gut durch die Krise?

Wie immer in der Pandemie sind die Daten mit Abstrichen zu genießen. Schon auf nationaler Ebene decken sich Zahlen je nach Quelle und Zählweise oft nicht, für den Vergleich verschiedener Staaten gilt das erst recht. Doch trotz aller Ungenauigkeiten, sagt der Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter von der Med-Uni Wien, "ist die Zahl der Verstorbenen ein Gradmesser, wie gut ein Land mit dieser Erkrankung umgegangen ist".

Wer ein Ranking vornimmt, findet Österreich im guten Mittelfeld: Die 1173 Toten pro einer Million Einwohner mit Stand 26. Mai bedeuten Platz 18 unter 27 EU-Staaten – der Durchschnitt der Union liegt mit 1621 deutlich höher. "Zufrieden dürfen wir damit trotzdem nicht sein", urteilt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS): "Angesichts der sehr hohen Gesundheitsausgaben müsste Österreich besser dastehen."

Mehr als 100 Tote pro Tag

Warum dies nicht der Fall ist, lässt sich am zeitlichen Verlauf ablesen: In der ersten Welle des Frühling 2020 lag die heimische Todesrate noch viel weiter unter dem EU-Schnitt – in der im Herbst ausgebrochenen zweiten Welle, als an manchen Tagen mehr als 100 Menschen starben, plötzlich darüber. Nach dem glimpflich verlaufenen Frühjahr, sagt Czypionka, "hat sich der Eindruck breitgemacht, es sei eh alles nicht so schlimm". Obwohl es klar gewesen sei, dass eine zweite Welle anrollen wird, habe der Staat weder das Contact-Tracing noch die Testkapazitäten ausreichend ausgebaut: "Doch eine Pandemie folgt Naturgesetzen, mit denen man nicht verhandeln kann."

Hutter bilanziert ähnlich. "Österreich hat die Erfolge der ersten Welle, in der wir gut aufgestellt waren, in der Folge im negativen Sinn kompensiert", sagt er und sieht einen entscheidenden Fehler in der Unterschätzung des Problems der (infizierten) Reiserückkehrer im Sommer. Allerdings liest der Umweltmediziner aus den Zahlen auch heraus, "was Österreich richtig gemacht hat: Als vor der Pandemie Stimmen laut wurden, Spitalsbetten zu streichen, wurden diese nicht erhört. Die hohe Bettenzahl hat uns geholfen."

Höchste Todeszahlen in Osteuropa

Hutter verweist zum Beleg unter anderem auf die unrühmlichen Spitzenreiter des tragischen Rankings. Osteuropäische Staaten landen nicht nur im EU-Vergleich weit vorn. Laut Quellen wie Our World in Data liegt Ungarn mit gut 3.000 Covid-Toten pro eine Million Einwohner derzeit weltweit auf Platz eins, gefolgt von der Tschechischen Republik.

Dabei war die Region gut gestartet. In der ersten Welle lagen die Sterbezahlen in Osteuropa sogar niedriger als in Österreich. Dass das Erwachen aus der sommerlichen Sicherheitsillusion dann noch böser ausfiel als hierzulande, erklären die Experten mit den im Osten deutlich schlechter ausgestatteten Gesundheitssystemen.

Einen Umkehrschluss ziehen Hutter und Czypionka daraus aber nicht: Beide verneinen, dass ein massiver Ad-hoc-Ausbau der Intensivbetten ein entscheidendes Mittel gewesen wäre, um dem Land Lockdowns zu ersparen. Mit neuen Betten sei es ja nicht getan, es müsse erst auch Personal ausgebildet werden. Außerdem dürfe nicht vergessen werden, dass mit einer Einlieferung auf eine Intensivstation sehr viel Leid verbunden sei – mit Stand Ende Februar hat ein Drittel der Covid-Patienten diese nicht lebend verlassen. Und wenn die Infektionsrate rapide – also exponentiell – wächst, komme der ehrgeizigste Ausbauplan nicht mit.

Erfolgsgeheimnisse der Nordländer

Am erfreulichen Ende des EU-Rankings liegt Finnland, das bis dato nur 171 Tote pro eine Million Einwohner zählt, gefolgt von Zypern und Dänemark. Während sich die Stopp-Corona-App des Roten Kreuzes zur Kontaktnachverfolgung im Infektionsfall in Österreich nie durchgesetzt hat, sei das fast lückenlose, weil digitale Contact-Tracing eines der finnischen Erfolgsrezepte, analysiert Hutter: "Das ist viel effektiver, als wenn man bei jedem Fall 20 Leuten hinterhertelefonieren muss, von denen dann noch viele schummeln."

Nicht nur in Sachen IT-Ausstattung, sondern auch bei der Datenlage sei Finnland "um Lichtjahre voraus", ergänzt Expertenkollege Czypionka – ein weiterer entscheidender Vorteil: Wenn die Behörden wissen, in welchem Umfeld – etwa Wohn- und Arbeitsverhältnisse – sich das Virus ausbreitet, könnten sie viel gezielter reagieren, statt immer nur pauschale Maßnahmen für alle zu verhängen: "Die nordischen Länder hatten deshalb geringere Restriktionen, sie haben sich Lockdowns erspart. Dort ist aber auch das Gemeinschaftsgefühl größer, Regeln werden stärker befolgt."

Kein schwedisches Vorbild

Gemessen an den Todeszahlen tanzt allerdings ein Land aus der nordischen Erfolgsreihe: Schweden, das stärker auf Empfehlungen als auf Vorschriften setzte.

Das Land verzeichnete gleich zu Beginn der Pandemie hohe Sterberaten, doch Verfechter dieses Sonderweges hatten kalkuliert, dass sich dies später wieder ausgleichen würde: Da wie dort würden anfällige Menschen dem Virus erliegen – die einen früher, die anderen später. Aufgegangen ist die Rechnung nicht. Schweden hat sich im Verlauf der Pandemie zwar stark verbessert, liegt aber mit 1.429 Toten pro eine Million Einwohner unterm Strich immer noch schlechter als Österreich.

Man könne nun entgegenhalten, merkt Czypionka an, dass auch Freiheit ein hohes Gut ist und der wirtschaftliche Einbruch moderater ausfiel als hierzulande (was allerdings wiederum mit der geringeren Abhängigkeit vom Tourismus zusammenhängt): "Aber man sieht an den anderen nordischen Staaten, dass es einen besseren Weg als den schwedischen gegeben hat."

Das Sterben in Kauf nehmen

"Ethisch nicht vertretbar" nennt Hutter den schwedischen Ansatz: "Wenn ich mit einfachen Maßnahmen wie einer Maskenpflicht Leben schützen kann, dann darf ich nicht einfach darauf verzichten und in Kauf nehmen, dass viele Menschen aus Risikogruppen sterben und noch mehr erkranken. Auch wenn Österreich in der zweiten Welle den enormen Unterschied in den Sterbezahlen beinahe aufgeholt hat."

In einer Phase lag aber auch Österreich zumindest im erweiterten Spitzenfeld. Nur in fünf EU-Staaten starben ab Anfang Februar, nach Abebben der zweiten Welle, weniger Menschen als hierzulande. Ein politischer Erfolgsbeweis? Zum Teil, sagen die Experten und heben das exzessive Testprogramm hervor. Gesunken seien Todeszahlen jedoch auch wegen eines wenig schmeichelhaften Vorzieheffekts: Viele "vulnerable", ergo alte und kranke Menschen seien bereits vorzeitig in der desaströsen zweiten Welle gestorben. (Gerald John, 27.5.2021)