Die Neos sind derzeit die effektivste Oppositionspartei in Österreich. Die SPÖ ist fast unpolitisch (geworden), die FPÖ deckt nur noch die "Was immer es ist, ich bin dagegen"-Bürger ab, die Grünen sind in eine Regierung mit den Türkisen geflohen.

Die Neos sind, vor allem im Ibiza-Untersuchungsausschuss, zu den schärfsten und glaubwürdigsten Kritikern des Machtmissbrauchs des "Systems Kurz" herangewachsen.

Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger.
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Ohne Neos ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Beendigung dieses Systems denkbar. Aber auch, wenn es nicht in absehbarer Zeit zu einer solchen Wende – Rot-Grün-Pink – kommen sollte, bilden die Neos eben ein sehr wichtiges Korrektiv gegenüber den autoritären und machtmissbräuchlichen Tendenzen des Systems Kurz.

Der organisierte Liberalismus hat in Österreich keine sehr erfolgreiche Tradition. Es gab in ÖVP, SPÖ und zeitweise auch der FPÖ liberale Flügel oder Persönlichkeiten, aber mehr nicht. Das Liberale Forum, eine Abspaltung der Nichtrechtsextremen von der FPÖ, kämpfte für die bürgerlichen Freiheiten, konnte aber auf die Dauer nicht reüssieren. Die Neos halten bei zehn Prozent, haben nach Aussage von manchen Politologinnen und Politologen ein Potenzial von 15 Prozent und haben sich einigermaßen stabil als Angebot für eine Mittelschicht etabliert, der die türkise ÖVP zu rechts (geworden) ist, die Grünen zu schwurbelig, die SPÖ soziologisch zu fremd und die FPÖ überhaupt inakzeptabel.

Mehr Entfaltungsmöglichkeiten

Der klassische Neos-Wähler kommt etwa zur Hälfte von der ÖVP und den Grünen, ist Selbstständiger oder höher qualifizierter Angestellter, ist eher gegen einen verkrusteten Kammerstaat, möchte mehr Entfaltungsmöglichkeiten für mündige Bürger – sowohl politisch wie wirtschaftlich, ohne aber den Sozialstaat radikal abzulehnen –, ist gesellschaftspolitisch liberal und tolerant, glaubt an"bürgerliche" Tugenden wie Bildung, Manieren und "Anstand" – und an den Rechtsstaat als Schutz vor Machtwillkür. Zur bürgerlichen Selbstbehauptung gehören aber auch Fighterqualitäten, und über die verfügen etwa Beate Meinl-Reisinger oder die sich im U-Ausschuss bewährt habende Stephanie Krisper.

Das Führungspersonal – Matthias Strolz und Beate Meinl-Reisinger – war ursprünglich ÖVP-nahe, verzweifelte aber zuerst am Provinzialismus der alten ÖVP, dann am Machiavellismus der neuen Türkisen. Heute ist zwar vielleicht eine Koalition der Neos mit der ÖVP denkbar, aber ganz sicher nur ohne die "Kurz-Partie". Inzwischen ist die ÖVP so weit rechts, dass liberale Bürgerliche an die Neos als Alternative denken.

Anfängliche Ausflüge in einen extremen Wirtschaftsliberalismus sind in den Hintergrund getreten, die Neos konzentrieren sich derzeit auf das Prinzip "Macht braucht intelligente Kontrolle" und auf die Erhaltung des Rechtsstaates. Wichtig wird sein, ob sie mit ihrer wichtigsten Regierungsbeteiligung, der in Wien, auf einem bedeutenden Themenfeld Erfolge erzielen können. Christoph Wiederkehr muss als Stadtrat für Bildung und Jugend eine Riesenaufgabe angehen: mitzuhelfen, die migrantische Jugend zu integrieren.

Die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle hält es (im Kurier) für möglich, dass mit den Neos die strukturelle Mehrheit "rechts der Mitte" (Türkis und FPÖ) gebrochen werden kann. Es wäre allerdings schon bemerkenswert, wenn sich mit den Neos dauerhaft eine echte liberale Partei in Österreich etablieren könnte. (Hans Rauscher, 19.6.2021)