Zur Gewährung der Staatsbürgerschaft, also eines Reisepasses, hat Bert Brecht bereits vor achtzig Jahren praktisch alles gesagt: "Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird" (Flüchtlingsgespräche 1940/41).

Als direkt betroffener ehemaliger politischer Flüchtling nahm ich deshalb im April 2014, also lange vor der "Flüchtlingskrise", den ehrenvollen Auftrag der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner an, als Vorsitzender eines neu geschaffenen weisungsfreien und unabhängigen Gremiums, des Migrationsrates für Österreich, an, um an der Ausarbeitung einer "gesamtstaatlichen Migrationsstrategie" mitzuwirken.

Nach zahlreichen Sitzungen in elf Arbeitskreisen, geleitet von namhaften Experten, wurde ein rund 90 Seiten langer Bericht im Dezember 2016 ihrem Nachfolger, Wolfgang Sobotka übergeben. Eine der Kernaussagen stammte von dem damals noch politisch nicht aktiven Professor Heinz Faßmann, verantwortlich für das "Arbeitsfeld Demografie und Gesellschaftswandel": Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15–64) von 5,7 Millionen auf 4,1 Millionen im Jahr 2050 schrumpfen; eine jährliche Nettozuwanderung von 49000 sei erforderlich. Unser Ausgangspunkt war, dass eine erfolgreiche Migrationspolitik den Rückhalt in der Bevölkerung braucht.

Turbulenzen

Fünf Jahre später kann von einer gesamtstaatlichen Migrationsstrategie keine Rede sein. Infolge der politischen Turbulenzen vor und nach den diversen Regierungsbildungen ist eine nüchterne und konstruktive Diskussion über die gleichzeitige Bereicherung und Herausforderung der Gesellschaft durch kontrollierte Zuwanderung (oft bewusst vermischt mit illegaler Migration) leider unmöglich geworden.

Dank eines zum denkbar falschen Zeitpunkt lancierten SPÖ-Vorschlags über die Vereinfachung und Beschleunigung der Einbürgerung in Österreich, wo die Zahl der Einwohner ohne österreichische Staatsbürgerschaft in acht Jahren um die Hälfte auf 1,5 Millionen oder 17 Prozent der Bevölkerung stieg, ist das "Ausländerthema" zynisch, aber natürlich voraussehbar von der in eine schwere Krise geschlitterten ÖVP vor der Oberösterreich-Wahl dankbar hochgespielt und vom neuen FPÖ-Obmann Herbert Kickl sofort aufgegriffen worden. Knapp nach dem Höhepunkt der Pandemie, bei einer noch immer hohen Arbeitslosigkeit und angesichts völlig unsicherer Wirtschaftsaussichten hat die SPÖ-Führung den politischen Akzent falsch gesetzt.

Staatsbürgerschaft bedeutet Verantwortung durch Bindung zum Land und überhaupt keine Integrationsgarantie. Man braucht eher groß angelegte, aber auch medial richtig vorbereitete Maßnahmen zur Überwindung des Bildungsdefizits, der fehlenden Sprachkenntnisse und der Benachteiligung der Migranten, aber auch der Hindernisse bei der Anwerbung und bei der Behandlung hochqualifizierter Zuwanderer. Das ist der Weg zum rot-weiß-roten Pass. (Paul Lendvai, 22.6.2021)