Ein spanisches Gericht hat im Herbst 2020 eine verschiedengeschlechtliche Ehe annulliert und den Ehemann zu Schadenersatz in Höhe von 3.000 Euro verurteilt. Grund: Der Ehemann hatte der Ehefrau seine Bisexualität nicht vor der Eheschließung offengelegt. Das Gericht entschied gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft – ungeachtet des Umstandes, dass der Mann ein guter Ehemann war, seine Frau nie betrogen hat, in sie verliebt war und sie liebevoll behandelt hat. Wäre das auch in Österreich zulässig?

Eheaufhebung wegen Irrtums

Das österreichische Ehegesetz ermöglicht die Aufhebung einer Ehe wegen Irrtums über Umstände, die die Person des anderen Ehegatten betreffen (§§ 37, 38). Allerdings muss es sich um einen Irrtum über Umstände handeln, die nach dem gesetzlichen Ehebild ("bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe") den Verlust des Ehewillens objektiv rechtfertigen.

Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat eine "Neigung zur Gleichgeschlechtlichkeit – möge sie auch in Form einer Bisexualität bestehen –", ("Männern zugänglich") als einen solchen Umstand gewertet, der eine Aufhebung nach dem gesetzlichen Ehebild objektiv rechtfertigt. Seit dieser Entscheidung aus dem Jahre 1963 sind jedoch mehr als 57 Jahre ins Land gezogen. Seither haben sich sowohl die gesellschaftliche Bewertung als auch die rechtliche Behandlung von Homo- und Bisexualität in Österreich ebenso grundlegend gewandelt wie das gesetzliche Ehebild.

"Verbrecherische Neigung"

Waren gleichgeschlechtliche Handlungen damals noch mit schwerem Kerker von einem bis zu fünf Jahren bedroht (§ 129 I StG 1852) und galten Homo- und Bisexualität somit als "verbrecherische Neigung" und "widernatürliche Veranlagung" (OGH 10.07.1963, 1 Ob 119/639), so steht sie heute unter grundrechtlichem Schutz und die Ehe steht gleichgeschlechtlichen Paare nicht nur offen, sondern ist ihnen, wie der Verfassungsgerichtshof 2017 ausgesprochen hat, verfassungsgesetzlich garantiert.

Nach der heute ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist die sexuelle Selbstbestimmung ein zentrales Schutzgut der Europäischen Menschenrechtskonvention und zählt das Sexualleben zum Kernbereich des von ihr geschützten Privatlebens (Art. 8). Der Gerichtshof erachtet solche Diskriminierung als inakzeptabel und ebenso schwerwiegend wie Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Religion, der Rasse, Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft und verlangt für die Rechtfertigung von Differenzierungen aufgrund der sexuellen Orientierung dementsprechend eine Notwendigkeit aufgrund besonders schwerwiegender Gründe. Der Ermessensspielraum der Staaten ist eng und Unterscheidungen, die ausschließlich auf der sexuellen Orientierung beruhen, stellen jedenfalls eine verbotene Diskriminierung dar.

Vorurteile einer heterosexuellen Mehrheit gegenüber einer homosexuellen Minderheit können, wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, ebensowenig eine ausreichende Begründung für Eingriffe in die Rechte homo- und bisexueller Menschen bieten, wie ähnlich negative Einstellungen gegenüber Menschen anderer Rasse, Herkunft oder Hautfarbe. Die Ausübung der Grundrechte durch eine (homosexuelle) Minderheit dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Mehrheit diese Ausübung akzeptiert.

Eheaufhebung wegen Irrtums über die sexuelle Orientierung? Rechtlich ist das keine Möglichkeit.
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Gedanken sind frei

All diese grundrechtlichen Garantien erfassen sowohl die sexuelle Orientierung als auch entsprechende Handlungen. Im eingangs erwähnten spanischen Fall wird jedoch ausschließlich auf die (sich nicht nach außen in Verhalten gegenüber anderen Menschen manifestierende) sexuelle Orientierung abgestellt. Damit wird überdies auch in die Gedankenfreiheit eingegriffen.

Die Gedankenfreiheit ist eines jener wenigen Fundamentalrechte, die von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) absolut und ohne Ausnahme gewährleistet werden (Art. 9 EMRK). Die Gedanken sind frei – ausnahmslos.

Ebenso irrelevant wie Vermögen und Jungfräulichkeit

Sind aber Gedanken absolut frei und ist die geschlechtsneutrale Ehe ("Ehe für Alle") durch die Verfassung garantiert, so kann ein Irrtum (Täuschung) über eine bisexuelle Orientierung nach dem gesetzlichen Ehebild ("bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe") ein Aufhebungsbegehren ebensowenig objektiv zu rechtfertigen wie ein Irrtum (Täuschung) über Vermögensverhältnisse des Partners, über die Jungfräulichkeit, über das wahre Partneralter, über den Beruf, über die Abstammung, über die Ausländereigenschaft des Partners und über die Zahl der vorehelichen Scheidungen. All das ist nämlich für die Gerichte "bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe" nicht relevant.

Das Gleiche gilt auch für eine homosexuelle Orientierung. Vermag doch eine "aus der Verschiedenheit der Veranlagungen … sich ergebende Unstimmigkeit hinsichtlich der sexuellen Bedürfnisse (hinsichtlich des sexuellen Wollens) … noch nicht dafür auszureichen, dem Ehegatten, der die sexuellen Wünsche des anderen nicht restlos zu befriedigen vermag, eine schwere Eheverfehlung anzulasten, sofern nicht überhaupt eine Verweigerung der ehelichen Pflicht festzustellen ist", wie der Oberste Gerichtshof ausgesprochen hat (OGH 09.12.1975, 5 Ob 236/75; OGH 18.06.1959, 6 Ob 185/59).

Voreheliches gleichgeschlechtliches Verhalten hingegen kann durchaus zur Eheaufhebung wegen Irrtums berechtigen, wenn es sich als eherelevant erweist, also "bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe" den Aufhebungswunsch rechtfertigt. Freilich nur dann, wenn es im Falle verschiedengeschlechtlicher Begehung ebenso und in gleichem Maße zur Aufhebung der Ehe berechtigt, also bei extremen Verhaltensweisen, die einen gravierenden Charaktermangel offenbaren.

All das gilt selbstredend auch für den Fall, dass sich in einer gleichgeschlechtlichen Ehe bei einem Teil überraschend eine bisexuelle oder heterosexuelle Orientierung beziehungsweise voreheliches verschiedengeschlechtliches Verhalten herausstellt. (Helmut Graupner, 23.6.2021)