Für Martha Meier hat Corona gleich zwei Dinge vernichtet: ihren Job und ihre Leidenschaft. Beides hing für sie immer zusammen, stets ging es dabei ums Reisen. "Ich habe noch erlebt, wie Flugtickets mit der Hand geschrieben wurden", erzählt sie.

Das war bei der damaligen Pan American World Airways, wo sie im Ticketverkauf beschäftigt war. Später war sie bei Qatar Airways und Laudamotion. Dann arbeitete sie als Reiseleiterin und zuletzt bei einem Reiseveranstalter. "Ich dachte mir, bis zur Pension brauche ich mir keine Sorgen mehr machen", sagt Meier. Alles kam anders. Im Mai 2020 kam Corona, sie wurde gekündigt:

"Wenn du dein Leben lang in einem Bereich gearbeitet hast, den du liebst, und dann im hohen Alter dastehst und nicht weißt, was du tun kannst, ist das sehr schwierig", sagt Meier, die in Wahrheit anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Zeitung sehen möchte. Sie hat hinter ihrem Wohnzimmertisch in ihrer Wohnung in Wien-Wieden Platz genommen, trägt gelbe Schuhe und ein gelbes Kleid.

Martha Meier hat in der Reisebranche gearbeitet, Corona nahm ihr den Job.
Foto: Andy Urban

An den Wänden hängen Fotos von ihren Reisen, und unter der Glasplatte des Tisches liegen Muscheln und Sand, die Meier immer wieder einmal aus dem Ausland mitgenommen hat. "Ich verstehe, dass mich die Firma gekündigt hat", sagt sie. "Der Reisebranche geht es furchtbar." Seither sucht sie nach einem neuen Job, durchforstet auf ihrem Laptop im Wohnzimmer Stellenangebote und schickt jede Woche drei bis fünf Bewerbungen ab. Bisher gab es nur Absagen.

Frau Meier ist eine von 144.850 Langzeitbeschäftigungslosen im Land, um gut 25.000 mehr als noch vor einem Jahr. Laut der offiziellen Statistik des Arbeitsmarktservice AMS gehören all jene Menschen in diese Gruppe, die schon seit über einem Jahr vergeblich einen Job suchen. Werden noch jene dazugezählt, die mindestens ebenso lang nicht arbeiten, aber eine Qualifizierung über das AMS machen, sind es sogar knapp 182.000 Betroffene.

Alter spielt entscheidende Rolle

Während die Arbeitslosigkeit in Österreich insgesamt rückläufig ist, wird es für diese Menschen schwer werden, den Weg zurück zu finden. Das ist aus vielen Studien und früheren Krisen gut belegt. DER STANDARD wird eine Gruppe von Langzeitbeschäftigungslosen in den kommenden Wochen und Monaten auf diesem Weg begleiten und immer wieder berichten, wie es den Menschen ergeht.

Die gewählte Stichprobe ist nicht repräsentativ. Aber die Fälle zeigen gut, warum es eine Herausforderung sein wird, die Langzeitarbeitslosigkeit, die in Österreich schon vor der Pandemie hoch war, zurückzudrängen. Bei Frau Meier spielt dabei das Alter eine entscheidende Rolle. Sie ist 57 Jahre alt.

Weil es in der Reisebranche nichts mehr gibt, bewirbt sie sich für andere Jobs, in der Administration. "Die Schwierigkeit ist, dass viele Firmen keine wollen, die dann in ein paar Jahren in Pension geht. Am liebsten sind ihnen Studierte, die sich mit einem niedrigen Gehalt zufriedengeben", erzählt sie. Die Pflege komme für sie als Berufswechsel nicht infrage. "In meinem Alter schaffe ich es körperlich nicht mehr, in der Pflege zu arbeiten."

Wie groß die Hürde Alter ist, lässt sich auch aus den Statistiken ablesen: Über 50-Jährige stellen den größten Anteil unter den Langzeitbeschäftigungslosen, fast 42 Prozent fallen in diese Gruppe. Junge Menschen unter 25 sind selten betroffen. Ganz viele aus der Gruppe, etwas mehr als jeder Dritte, leiden laut einer Auswertung des AMS für den STANDARD unter gesundheitlichen Einschränkungen.

Der Weg zurück

Manuela will es trotz Depression schaffen

Manuela Mitteregger ist seit 2018 fast durchwegs arbeitslos und macht nun eine Ausbildung zur Tischlerin.
Foto: Andy Urban

Eine von ihnen ist Manuela Mitteregger. Sie wohnt in Würflach, unweit von Wiener Neustadt, ist erst 23, aber seit 2018 fast durchgängig arbeitslos. Sie hat blonde Haaren, ein schickes Piercing in der Nase. Sie hat eine lockere Art, zu erzählen, weshalb, wenn sie es nicht will, wohl wenige bemerken würden, dass sie immer wieder mit schweren gesundheitlichen Problemen kämpft.

Da ist einmal ihr Knie, das ihr immer wieder zu schaffen macht. Schwieriger auszuhalten waren aber die Depressionen, unter denen sie seit dem Teenageralter leidet. Diese waren mit ein Grund, dass sie die Matura nach der Handelsschule nicht geschafft hat.

Danach ging sie zur Supermarktkette Merkur arbeiten, kam dort an die Kassa. "Der Job war für mich wie eine Therapie", erzählt Mitteregger. Wenn es ihr davor schlechtgegangen war, sei sie manchmal nicht aus dem Bett gekommen. An der Kassa gewöhnte sie sich wieder daran, unter Menschen zu kommen. Doch 2018 wurden ihre Krankheitssymptome wieder stärker. Sie musste ihren Job aufgeben.

Zu Beginn der Pandemie, als alle den Lebensmittelhandel stürmten, versuchte sie wieder den Einstieg. Diesmal wurde ihre Stelle bei Merkur aus Kostengründen eingespart, nachdem der Ansturm zu Ende war.

Die Zeit zu Hause, die darauf folgte, sei schwer gewesen, erzählt Mitteregger. Auch ihr Vater verlor den Job, das Geld wurde knapp. Doch diesmal rafte sich die 23-Jährige schnell auf: "Man darf sich von Krankheiten nicht ablenken lassen", sagt sie. Mitteregger hat im De zember 2020 eine Ausbildung zur Tischlerin im Ausbildungszentrum Wiener Neustadt begonnen, die noch bis zum kommenden Frühjahr dauert. Sollte sie durchhalten und bestehen, stehen ihre Chancen am Jobmarkt mit abgeschlossener Lehre gut. Leicht wird das nicht, das weiß sie. Zu neunt haben sie den Lehrgang angefangen, vier sind noch übrig. Die junge Frau ist aber zuversichtlich: In der Gruppe helfen sie einander, sie hat in der Ausbildung Freunde gefunden. "Der Wille, durchzuhalten, ist da."

Keine Antwort

Mladen sieht kaum noch Chancen für sich

Mladen ist da nicht mehr so optimistisch. Vier Monate ist es her, seit der Programmierer das letzte Vorstellungsgespräch hatte. Virtuell, denn da war die Pandemie noch omnipräsent. "Es war okay", sagt Mladen. Nur leider hätten die Voraussetzungen, die er mitbrachte, nicht gepasst.

Auch er will nicht mit seinem richtigen Namen in der Zeitung stehen. So wie er nicht gerne persönlich beim AMS in Wien, wo er mit seiner Familie lebt, vorstellig wird. "Da genierst du dich ja, wenn du da hingehen musst – mit 62." Corona sieht der leger gekleidete, hagere Mann zumindest in dieser Hinsicht fast als Geschenk. Sein Kontakt zum AMS läuft bis jetzt virtuell.

Beim erwähnten Vorstellungsgespräch hätten ihm drei Herren umstandslos erklärt, dass er nicht der Richtige sei. Diese Erfahrung sei aber immer noch besser gewesen als jene mit den vielen unbeantworteten Bewerbungen davor. "Auf hundert Bewerbungen kriegst du drei Antworten", sagt er. Das zermürbe. Er bewirbt sich trotzdem auf Stellenanzeigen, die er selbst sucht. Auch wenn ihm das eigentlich immer schlechte Stimmung beschert. "Du bewirbst dich und kriegst kein A und kein B. Da bist du schon down."

Drittes Handicap

Neben dem hohen Alter und gesundheitlichen Einschränkungen, kämpfen Langzeitbeschäftigungslose mit einem dritten Handicap: Viele Arbeitgeber wollen niemanden einstellen, der lange weg ist vom Jobmarkt. Diese Form der Diskriminierung ist wissenschaftlich gut untersucht.

Die schwedischen Ökonomen Stefan Eriksson und Dan-Olaf Rooth haben 2007 in einem Feldexperiment 8500 Bewerbungen an 3700 Arbeitgeber via E-Mail für unterschiedliche freie Stellen ausgeschickt. Für die jeweiligen Stellen erfanden sie Bewerber mit guten Qualifikationen. Einen wesentlichen Unterschied gab es aber: In manchen Lebensläufen ließen die Forscher unterschiedlich lange Lücken.

Manche Bewerber mussten so den Eindruck erwecken, viele Monate keinen Job gehabt zu haben. Ergebnis der Studie: Wer aktuell länger als neun Monate arbeitslos ist und sich bewirbt, hat eine um 20 Prozent schlechtere Chance, zu einem Vorstellungsgespräch auch nur eingeladen zu werden. Die Rückmeldungsrate der Arbeitgeber für Langzeitbeschäftigungslose nehme "dramatisch ab", konstatierten die Forscher.

Umstieg wagen

Frau Yavuz will eine Straßenbahn fahren

Yasemin Isik Yavuz wurde im Krankenstand gekündigt.
Foto: Andy Urban

Das mit dem Nichtantworten kennt auch Yasemin Isik Yavuz gut. Sie sitzt in einer kleinen Schneiderei der Volkshilfe in Wien-Favoriten, mit Nähmaschine, Maßband, Scheren und Bügeleisen und bearbeitet verschiedene Stoffe, um darauf Kleider zu machen. Vor mehr als zehn Jahren zog Yavuz aus der Türkei nach Österreich, arbeitete dann als Reinigungskraft, Kassiererin und schließlich bis 2017 in einer Wäscherei. Als sie aufgrund von Magenproblemen zwei Wochen in Krankenstand ging, habe man sie gekündigt, erzählt Yavuz.

Dann begann die große Suche. Sie habe jede Woche zwei bis drei Bewerbungen geschrieben, aber nur Absagen oder keine Antwort bekommen. "Ich glaube, dass es auch an meinem Kopftuch liegt", sagt Yavuz. "Und an meinem Namen." Dann kam Corona und reduzierte die verbleibenden Stellenangebote. Zumindest finanziell sei sie mithilfe des Arbeitslosengeldes einigermaßen ausgekommen, sagt Yavuz. Anfang dieses Jahres vermittelte sie das AMS schließlich an die Schneiderei der Volkshilfe, eines sozialökonomischen Betriebs, wo sie 1300 Euro netto im Monat verdient.

Yavuz weiß, dass sie nur noch bis August dort arbeiten kann, dass sie bis dahin einen neuen Job braucht. Und sie weiß auch, dass sie in der Textilbranche in Österreich kaum etwas finden wird. Die 38-Jährige träumt ohnehin von anderem. "Ich möchte Straßenbahnfahrerin werden", sagt sie, "oder Fahrerin für den Schultransport." Bei den Wiener Linien wurden vor kurzem neue Stellen ausgeschrieben. Für eine hat sich Yavuz bereits beworben.

Anhand ihres Falles wird noch eine weitere Schwierigkeit sichtbar. Der Arbeitsmarkt verlangt nach immer höheren Qualifikationen. Wer sie nicht mitbringt, hat die schlechteren Karten. Von den Langzeitbeschäftigungslosen hat die Hälfte nur eine Pflichtschulausbildung – oder selbst diese fehlt. Viele Arbeitgeber können diese Menschen nicht in ihren Firmen einsetzen.

Neben Alter, Krankheit und Diskriminierung ist dies ein weiterer Grund dafür, warum diese Gruppe der Jobsuchenden so schwer zu vermitteln ist. Um die Vermessung zu vervollständigen: Die Mehrheit der Langzeitbeschäftigungslosen ist männlich. Ihr Anteil an allen Arbeitslosen ist mit 56 Prozent in Wien am höchsten und mit 22 Prozent in Tirol am niedrigsten. Exakt 66 Prozent sind österreichische Staatsbürger.

Neue Projekte

Karl Blaha hat eine garantierte Stelle

Karl Blaha musste sein Schuhgeschäft 2018 zusperren, seither sucht er Arbeit. Inzwischen ist er in einem AMS-Projekt.
Foto: Robert Newald

Die türkis-grüne Koalition hat sich spät, aber doch entschieden, ein Programm für Langzeitbeschäftigungslose zu starten. Insgesamt sollen 100.000 Menschen bis Ende 2022 über geförderte Jobs in Beschäftigung gebracht werden.

Das Projekt ist ambitioniert. Im Kleineren gibt es schon eine Vielzahl von interessanten AMS-Programmen mit ähnlicher Zielsetzung. An einem davon nimmt Karl Blaha teil. Er ist über 50, hat eine Glatze. Lange besaß er das gleichnamige Schuhgeschäft in Gramatneusiedl. 2018 musste er zusperren. Seitdem sucht er eine Stelle. Das AMS in Niederösterreich hat ihn an ein Projekt vermittelt, anhand dessen die Wirkung einer Jobgarantie erprobt wird

Dabei bekommen alle Arbeitslosen im Ort in den kommenden drei Jahren einen Job angeboten, die meisten werden über einen Partnerverein des AMS beschäftigt.
DER STANDARD begleitet Blaha schon seit vergangenem Herbst, als er davon erzählte, wie ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fällt.

Inzwischen gibt er im Zuge seines vom AMS geförderten Jobs Deutschunterricht für andere Arbeitslose und hilft, das historische Archiv des Ortes zu erweitern. Mit dem Programm ist er zufrieden. Dennoch sucht er nach Arbeit in einem klassischen Betrieb.

Das Projekt in Gramatneusiedl, ein Steckenpferd des niederösterreichischen AMS-Chefs Sven Hergovich, ist auch interessant, weil die wichtigste internationale Studie zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit hier erforscht wurde: "Die Arbeitslosen von Marienthal", 1933 veröffentlicht. Ein Teil des heutigen Wissens geht auf die damaligen Arbeiten der Sozialwissenschafter rund um Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda zurück. Mehrere Forscherteams begleiten das aktuelle AMS-Projekt, eines von der Uni Oxford. Erste Analysen zeigen, dass sich das körperliche und psychische Wohlbefinden der Programmteilnehmer verbessert hat. Ob das so bleibt?

Im Herbst gibt es darauf erste Antworten.

(András Szigetvari, Jakob Pallinger, Regina Bruckner, 26.6.2021)